Veröffentlicht am März 15, 2024

Entgegen der Annahme, Angst sei eine reine Kopfsache, ist sie eine körperliche Reaktion, die Sie aktiv beeinflussen können.

  • Angst entsteht nicht durch Willensschwäche, sondern durch eine Reaktion des Nervensystems, das auf Gefahr schaltet (Sympathikus-Aktivierung).
  • Statt Gedanken zu bekämpfen, können Sie durch körperbasierte Techniken (Bottom-up-Regulierung) dem Gehirn Sicherheit signalisieren und Panik stoppen.

Empfehlung: Lernen Sie, die Signale Ihres Körpers zu deuten und nutzen Sie gezielte Atem- und Erdungsübungen, um Ihr Nervensystem bewusst aus dem Alarmmodus in einen Zustand der Sicherheit und Ruhe zu führen.

Dieses Gefühl, das Herz rast, die Hände werden feucht, der Gedanke „Alle sehen meine Unsicherheit“ brennt sich ein. Viele Menschen, die unter Angst, Panik oder sozialem Unbehagen leiden, kennen den quälenden inneren Monolog, der dies als persönliches Versagen deutet. Sie schämen sich, fühlen sich schwach und versuchen verzweifelt, die Kontrolle zu behalten, oft mit dem gut gemeinten, aber nutzlosen Ratschlag: „Reiß dich doch zusammen.“

Die gängigen Ansätze konzentrieren sich meist auf das Denken. Wir sollen unsere Gedanken umstrukturieren, positiv denken, uns unseren Ängsten stellen. Doch was, wenn der Verstand in einer akuten Panikattacke gar nicht mehr erreichbar ist? Was, wenn der Körper längst das Kommando übernommen hat und im Überlebensmodus feststeckt? Hier liegt die Grenze traditioneller Methoden. Sie ignorieren oft die biologische Wurzel des Problems.

Doch was wäre, wenn die wahre Lösung nicht im Kampf gegen die Gedanken, sondern im Dialog mit dem Körper liegt? Die Polyvagal-Theorie bietet hier eine revolutionäre Perspektive: Angst ist keine Charakterschwäche, sondern eine neurobiologisch verständliche Reaktion unseres autonomen Nervensystems. Es ist die Sprache unseres Körpers, der uns vor einer wahrgenommenen Bedrohung schützen will. Es ist ein fehlgeleiteter Schutzmechanismus, nicht ein persönlicher Makel.

Dieser Artikel führt Sie weg von der Scham und hin zum Verstehen. Wir werden erkunden, was genau in Ihrem Nervensystem passiert, wenn Angst aufkommt. Sie werden lernen, zwischen normaler Sorge und einer handfesten Störung zu unterscheiden, sofort wirksame Techniken zur Beruhigung anwenden und die heimlichen Brandbeschleuniger in Ihrem Alltag entlarven. Ziel ist es, Ihnen die Macht zurückzugeben – nicht durch Kampf, sondern durch das Erlernen der Sprache Ihres Nervensystems.

Um Ihnen eine klare Orientierung auf diesem Weg zu geben, folgt eine Übersicht der Themen, die wir gemeinsam durchleuchten werden. Jede Sektion baut auf der vorherigen auf und gibt Ihnen ein weiteres Werkzeug für Ihren Weg zu mehr innerer Sicherheit an die Hand.

Angst, Störung, Panikattacke: Wo die normale Sorge aufhört und ein echtes Problem beginnt

Sich vor einer wichtigen Prüfung oder einem öffentlichen Auftritt Sorgen zu machen, ist eine normale, sogar hilfreiche Reaktion. Diese Form der Angst mobilisiert Energie und schärft unsere Konzentration. Doch wann kippt diese natürliche Reaktion in ein Problem? Die Antwort liegt in der Sprache unseres Nervensystems. Die Polyvagal-Theorie erklärt dies über drei Zustände: Der ventrale Vagus-Zustand ist unser sicherer Hafen – wir fühlen uns verbunden, ruhig und sozial. Bei einer Herausforderung aktiviert sich der Sympathikus, unser „Gaspedal“. Das Herz schlägt schneller, wir sind bereit für „Kampf oder Flucht“. Das ist die normale Sorge.

Eine Angststörung beginnt, wenn das System in dieser Aktivierung stecken bleibt oder ohne realen Anlass hochfährt. Die Bedrohung ist nicht mehr ein Tiger, sondern der Gedanke an den Supermarkt oder ein Treffen mit Freunden. Dieser Prozess wird als Neurozeption bezeichnet – eine unbewusste Wahrnehmung von Gefahr, selbst wenn rational alles in Ordnung scheint. Eine Panikattacke ist die extremste Form dieser sympathischen Aktivierung: Der Körper glaubt, in akuter Lebensgefahr zu sein, und löst eine massive physiologische Reaktion aus. Der entscheidende Unterschied liegt also nicht in der Art der Symptome, sondern in ihrer Intensität, Dauer und Angemessenheit zur Situation.

Die biologische Grundlage dafür ist komplex. Das körpereigene Endocannabinoid-System spielt hier eine Schlüsselrolle. Wie eine Untersuchung der Funktionsweise nahelegt, ist dieses System ein Meisterregulator für Stress und Angst. Moleküle wie CBD können an dessen CB1- und CB2-Rezeptoren andocken und so die Aktivität von beruhigenden Neurotransmittern wie GABA modulieren. Es geht also nicht um eine „eingebildete“ Angst, sondern um ein aus der Balance geratenes neurobiologisches System, das mit falschen Alarmen reagiert. Zu verstehen, dass es sich um eine physiologische Fehlregulation handelt, ist der erste Schritt, um die Scham abzulegen und die Kontrolle zu übernehmen.

Mitten in der Panikattacke: Diese 5-Minuten-Technik erdet Sie sofort

Wenn eine Panikattacke über Sie hereinbricht, ist der präfrontale Kortex – Ihr rationales Gehirn – quasi offline. Zu versuchen, sich mit Logik zu beruhigen („Es gibt keinen Grund zur Panik“), ist wie der Versuch, ein Feuer mit einem Lexikon zu löschen. Der Schlüssel ist eine „Bottom-up“-Kommunikation: Sie müssen Ihrem Körper direkt signalisieren, dass die Gefahr vorüber ist. Eine der effektivsten Methoden dafür ist die bewusste Steuerung der Atmung, da sie den Vagusnerv direkt beeinflusst – die „Bremse“ Ihres Nervensystems.

Diese Technik ist nicht nur irgendeine Atemübung; sie wird sogar von Spezialeinheiten wie den Navy SEALs genutzt, um in Extremsituationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Ihr Ziel ist es, das Ausatmen gezielt zu verlängern. Ein langes Ausatmen stimuliert den parasympathischen Teil des Vagusnervs und sendet ein starkes Signal der Beruhigung an Ihr Gehirn. Es signalisiert: „Die Flucht ist vorbei, du bist jetzt in Sicherheit.“

Aktivierung des ventralen Vagusnervs durch sensorische Techniken

Wie die Visualisierung andeutet, geht es darum, über die Sinne eine direkte Verbindung zum Nervensystem herzustellen. Die Atmung ist der direkteste Draht. Anstatt in der Spirale der Panikgedanken gefangen zu sein, lenken Sie Ihre gesamte Aufmerksamkeit auf den physischen Prozess des Atmens. Das Zählen der Sekunden beschäftigt den Verstand und gibt ihm eine konkrete Aufgabe, während die Physiologie die eigentliche Arbeit der Beruhigung leistet.

Ihr Notfallplan: Die 4-7-8 Atemtechnik zur sofortigen Erdung

  1. Vorbereitung: Setzen oder legen Sie sich hin. Platzieren Sie eine Hand auf Ihrem Bauch, um die Atembewegung zu spüren. Atmen Sie einmal vollständig durch den Mund aus.
  2. Einatmen (4 Sekunden): Schließen Sie den Mund und atmen Sie langsam und ruhig durch die Nase ein, während Sie innerlich bis vier zählen.
  3. Atem anhalten (7 Sekunden): Halten Sie den Atem an und zählen Sie dabei bis sieben. Dies ist der entscheidende Moment, in dem sich der Sauerstoff im Körper verteilt.
  4. Ausatmen (8 Sekunden): Atmen Sie nun hörbar und kräftig durch den Mund aus, während Sie langsam bis acht zählen. Spüren Sie, wie sich die Anspannung löst.
  5. Wiederholung: Wiederholen Sie diesen Zyklus mindestens drei- bis viermal. Laut Studien kann diese Technik die Panik-Intensität oft innerhalb von nur drei Minuten signifikant reduzieren.

Die heimlichen Angst-Verstärker: Welche Ihrer täglichen Gewohnheiten Ihr Nervensystem sabotieren

Ihr Nervensystem ist wie ein empfindliches Messinstrument, das ständig auf interne und externe Signale reagiert. Während wir uns oft auf die großen, offensichtlichen Stressoren wie Arbeit oder Konflikte konzentrieren, sind es häufig die subtilen, täglichen Gewohnheiten, die das System chronisch im Alarmmodus halten. Diese „heimlichen Verstärker“ füllen unser Stressfass Tropfen für Tropfen, bis es bei der kleinsten zusätzlichen Belastung überläuft. Ein klassisches Beispiel ist der ständige digitale Input: Jede Smartphone-Benachrichtigung, jedes E-Mail-Ping ist ein Mikrosignal der Dringlichkeit, das den Sympathikus aktiviert.

Ein weiterer oft übersehener Faktor sind starke Blutzuckerschwankungen. Eine Mahlzeit mit schnell verdaulichen Kohlenhydraten führt zu einem rasanten Anstieg und anschließenden Absturz des Blutzuckers. Die Symptome dieses Absturzes – Herzklopfen, Zittern, Schwindel – sind denen einer Panikattacke zum Verwechseln ähnlich. Ihr Gehirn interpretiert diese Körpersignale fälschlicherweise als Gefahr und löst eine Angstreaktion aus. Selbst positive, aufregende Ereignisse können zu einem „emotionalen Kater“ führen, weil sie das Nervensystem ebenfalls stark stimulieren und es danach Zeit zur Erholung braucht.

Die aktuelle gesellschaftliche Lage verstärkt diesen Druck zusätzlich. Wie eine aktuelle Erhebung zeigt, fühlten sich 58 % der Menschen in Deutschland durch die Angst vor Krisen gestresst. Dieses kollektive Gefühl der Unsicherheit senkt die generelle Reizschwelle unseres Nervensystems.

Die Mehrheit der Menschen in Deutschland (58 %) fühlte sich im November 2023 aufgrund der Angst vor Kriegen und politischen Krisen gestresst.

– YouGov, Swiss Life Stress-Studie 2024

Der erste Schritt zur Veränderung ist, diese versteckten Trigger zu identifizieren. Das folgende Schema verdeutlicht den Unterschied zwischen den offensichtlichen und den oft übersehenen Auslösern.

Versteckte vs. Offensichtliche Angst-Trigger im Alltag
Offensichtliche Trigger Versteckte Trigger Auswirkung auf Nervensystem
Koffein, Schlafmangel Ständige Smartphone-Benachrichtigungen Chronische sympathische Aktivierung
Stress bei der Arbeit Blutzuckerschwankungen Nachahmung von Angstsymptomen
Konflikte Emotionaler Kater nach positiven Events Nervensystem-Überstimulation

Hören Sie auf, Ihre Angst zu bekämpfen: Warum Akzeptanz der erste Schritt zur Heilung ist

Der natürliche Impuls bei aufkommender Angst ist, sie wegzudrücken, zu bekämpfen oder vor ihr zu fliehen. „Das darf jetzt nicht sein“, denken wir und spannen unwillkürlich die Muskeln an. Paradoxerweise ist genau dieser Kampf der Treibstoff, der das Feuer der Angst am Lodern hält. Indem Sie gegen die Angst ankämpfen, signalisieren Sie Ihrem Nervensystem: „Hier ist tatsächlich eine riesige Bedrohung, gegen die wir kämpfen müssen!“ Sie bestätigen damit den Fehlalarm und verstärken die sympathische Aktivierung.

Akzeptanz bedeutet nicht Resignation oder Gutheißen. Es ist eine radikale, strategische Entscheidung. Es bedeutet, die körperlichen Empfindungen (Herzrasen, Engegefühl, Zittern) als das anzuerkennen, was sie sind: unangenehme, aber ungefährliche Signale eines überaktiven Nervensystems. Anstatt „Nein“ zu den Empfindungen zu sagen, versuchen Sie ein inneres „Ja, ich spüre das. Es ist okay, dass es da ist.“ Dieser Haltungswechsel nimmt dem inneren Kampf die Energie. Die Metapher eines Treibsandes passt hier perfekt: Je mehr Sie strampeln, desto tiefer sinken Sie. Wenn Sie aufhören zu kämpfen und sich flach hinlegen, tragen die Kräfte des Sandes Sie.

Metaphorische Darstellung der Akzeptanz von Angstgefühlen

Diese Haltung der Akzeptanz schafft den nötigen mentalen Raum, um wieder handlungsfähig zu werden. Erst wenn Sie aufhören, gegen die Welle anzukämpfen, können Sie anfangen, auf ihr zu surfen. Diese Erfahrung, eine Angst-Welle kommen und auch wieder gehen zu sehen, ohne dass eine Katastrophe eintritt, ist eine unglaublich stärkende Korrekturerfahrung für Ihr Gehirn. Es lernt durch Erfahrung (Neuroplastizität), dass die Signale nicht zwangsläufig echte Gefahr bedeuten. Substanzen, die das Nervensystem bei dieser Regulation unterstützen, können diesen Prozess erleichtern. So hat eine retrospektive Studie gezeigt, dass 79,2 % der Patienten reduzierte Angstwerte innerhalb von nur vier Wochen aufwiesen, als sie einen regulierenden Ansatz verfolgten. Dies zeigt, wie wirkungsvoll die Beruhigung des Systems anstelle des reinen Bekämpfens der Symptome ist.

Verhaltenstherapie oder Psychoanalyse: Welcher Therapieansatz bei Angst wirklich zu Ihnen passt

Wenn die Selbsthilfestrategien an ihre Grenzen stoßen, ist eine Psychotherapie der nächste logische Schritt. Doch das Feld der Therapieansätze kann verwirrend sein. Grob lassen sich die Methoden in zwei Hauptkategorien einteilen: „Top-down“- und „Bottom-up“-Ansätze. Das Verständnis dieses Unterschieds ist entscheidend, um die für Sie passende Hilfe zu finden. Die klassische kognitive Verhaltenstherapie (KVT) ist ein typischer Top-down-Ansatz. Sie setzt bei den Gedanken und Überzeugungen an (die „Spitze“ des Eisbergs). Das Ziel ist, irrationale Denkmuster zu erkennen und durch rationalere zu ersetzen. Dieser Ansatz ist sehr gut erforscht und zeigt vor allem bei generalisierten Angststörungen eine hohe Wirksamkeit.

Dem gegenüber stehen die Bottom-up-Ansätze, wie zum Beispiel Somatic Experiencing oder körperorientierte Traumatherapien. Diese Methoden gehen davon aus, dass die Wurzel der Angst im Körper und im Nervensystem gespeichert ist (die „Basis“ des Eisbergs). Der Fokus liegt hier nicht primär auf dem Sprechen über das Problem, sondern auf dem Spüren und Regulieren von Körperempfindungen. Ziel ist es, dem Nervensystem zu helfen, gespeicherte Überlebensenergie zu entladen und neue, sichere Erfahrungen zu machen. Dieser Ansatz ist besonders bei posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) und Panikattacken vielversprechend, bei denen der Körper oft übermächtig reagiert. Integrative Verfahren wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) kombinieren beide Ebenen, indem sie durch bilaterale Stimulation (z. B. Augenbewegungen) die Verarbeitung von traumatischen Erinnerungen auf kognitiver und körperlicher Ebene verbinden.

Bei der Wahl des Ansatzes ist es wichtig, ehrlich zu sich selbst zu sein: Sind es vor allem die kreisenden Sorgen-Gedanken, die Sie quälen (Top-down könnte passen)? Oder fühlen Sie sich von körperlichen Symptomen und Panik überrollt, die Sie nicht kontrollieren können (Bottom-up könnte hilfreicher sein)? Viele moderne Therapeuten integrieren heute Elemente aus beiden Welten. Auch die Forschung zu unterstützenden Substanzen wie Cannabidiol (CBD) ist noch im Gange, und Experten mahnen zur Vorsicht vor voreiligen Schlüssen.

Es müssen mehrere Doppelblindstudien durchgeführt werden, bei denen Hunderte von Patienten über mehrere Wochen Cannabidiol oder Placebo erhalten. Nur wenn sich dann ein bedeutsamer Unterschied zum Scheinmedikament zeigt, wäre der Beweis erbracht.

– Deutsche Angst-Hilfe e.V., Cannabis-Produkte als Angstmedikamente?

Die folgende Tabelle gibt Ihnen eine vereinfachte Übersicht, um die Ansätze besser einordnen zu können.

Top-Down vs. Bottom-Up Therapieansätze
Ansatz Methode Fokus Evidenz
Top-Down (Verhaltenstherapie) Kognitive Umstrukturierung Gedanken & Überzeugungen Hohe Evidenz bei GAD
Bottom-Up (Somatic Experiencing) Körperarbeit Nervensystem & gespeicherte Körperempfindungen Wachsende Evidenz bei PTBS
Integrativ (EMDR) Bilaterale Stimulation Traumaverarbeitung Starke Evidenz bei Trauma

Angst, Störung, Panikattacke: Wo die normale Sorge aufhört und ein echtes Problem beginnt

Wir haben bereits die grundlegende Unterscheidung zwischen einer normalen Stressreaktion und einer pathologischen Angst gemacht. Lassen Sie uns nun tiefer in die neurobiologischen Mechanismen eintauchen, die diese Verschiebung verursachen. Warum reagiert das Nervensystem mancher Menschen empfindlicher als das anderer? Die Antwort ist multifaktoriell: Es ist ein Zusammenspiel aus genetischer Veranlagung und Umwelteinflüssen. Studien deuten darauf hin, dass bestimmte Genvarianten, insbesondere im serotonergen, dopaminergen und noradrenergen System, eine Prädisposition für Angststörungen schaffen können. Stellen Sie es sich so vor: Manche Menschen kommen mit einem von Natur aus empfindlicheren „Alarmsystem“ auf die Welt.

Diese genetische Veranlagung allein führt jedoch selten zu einer Störung. Es sind oft wiederholte belastende Erfahrungen (Umweltfaktoren), die das System nachhaltig verändern. Chronischer Stress, traumatische Erlebnisse oder sogar lang anhaltende Unsicherheit können dazu führen, dass die Amygdala – das Angstzentrum im Gehirn – überaktiv wird und der Hippocampus, der für die Kontextualisierung von Erinnerungen zuständig ist, in seiner Funktion beeinträchtigt wird. Das Resultat: Das Gehirn verliert die Fähigkeit, effektiv zwischen einer echten Bedrohung (einem Auto, das auf Sie zurast) und einer erinnerten oder vorgestellten Bedrohung (der Gedanke an eine Präsentation) zu unterscheiden.

Auf neurochemischer Ebene wird eine Dysbalance von Schlüssel-Neurotransmittern vermutet. Ein Mangel an Serotonin (Stimmung, Wohlbefinden) und GABA (der wichtigste hemmende Neurotransmitter, unsere „innere Bremse“) bei einem gleichzeitigen Überschuss an Noradrenalin (Stress, Erregung) und Glutamat (der wichtigste erregende Neurotransmitter) schafft ein Gehirn-Milieu, das ständig in Richtung „Alarm“ tendiert. Eine Störung ist also keine Einbildung, sondern eine messbare Veränderung der Gehirnchemie und -struktur, die das System in einen Zustand der Hypervigilanz zwingt. Die gute Nachricht ist, dass diese Veränderungen durch Neuroplastizität – die Fähigkeit des Gehirns, sich neu zu vernetzen – reversibel sind. Genau hier setzen wirksame Therapien und Regulationsübungen an.

Mitten in der Panikattacke: Diese 5-Minuten-Technik erdet Sie sofort

Neben der bewussten Atemsteuerung gibt es eine weitere, unglaublich wirksame „Bottom-up“-Technik, um das überflutete Gehirn aus dem Panikmodus zu holen: die 5-4-3-2-1-Erdungsmethode. Während die Panik Ihre Aufmerksamkeit nach innen auf die Katastrophengedanken und Körpersymptome zieht, zwingt diese Übung Ihr Gehirn sanft, sich nach außen zu orientieren und die reale, gegenwärtige Umgebung wahrzunehmen. Dieser Fokuswechsel hat einen direkten neurobiologischen Effekt: Er aktiviert den präfrontalen Kortex, das Zentrum für logisches Denken und Planung, und dämpft gleichzeitig die Aktivität der Amygdala, des Angstzentrums.

Stellen Sie sich vor, Ihre Aufmerksamkeit ist ein Scheinwerfer. In der Panik ist dieser Scheinwerfer eng auf die inneren Schreckensszenarien gerichtet. Die 5-4-3-2-1-Methode fordert Sie auf, diesen Scheinwerfer bewusst zu schwenken und auf neutrale Sinnesreize in Ihrer Umgebung zu richten. Sie durchbrechen den Teufelskreis aus Körpersymptom -> Angstgedanke -> stärkeres Körpersymptom. Anstatt zu denken „Mein Herz rast, ich bekomme einen Herzinfarkt“, denken Sie „Ich sehe einen blauen Stuhl.“ Das klingt banal, ist aber ein hochwirksamer neurologischer Kurzschluss der Panikspirale.

Diese Methode ist besonders hilfreich für Menschen, die bei Panik zu Dissoziation neigen – dem Gefühl, neben sich zu stehen oder dass die Welt unwirklich ist. Indem Sie Ihre Sinne aktiv nutzen, um sich mit der physischen Realität zu verbinden, holen Sie sich buchstäblich „zurück auf den Boden“ und in Ihren Körper. Der große Vorteil: Sie benötigen keine spezielle Ausrüstung und können sie überall unauffällig durchführen – im Büro, in der U-Bahn oder im Supermarkt.

Fallbeispiel: Die 5-4-3-2-1 Grounding-Methode in der Praxis

Diese sensorische Erdungstechnik nutzt alle fünf Sinne, um das Nervensystem im Hier und Jetzt zu verankern. Der Prozess ist intuitiv und wirkt oft schon nach dem ersten Durchgang. Studien deuten auf eine hohe Erfolgsquote hin, da die Methode den präfrontalen Kortex aktiviert und laut Beobachtungen die Aktivität der Amygdala um bis zu 40 % reduzieren kann. Der Ablauf ist einfach: Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und benennen Sie (laut oder leise für sich):
5 Dinge, die Sie sehen können: (z.B. ein Bild an der Wand, die Maserung des Tisches, eine Pflanze, Ihre Hände, ein Lichtschalter).
4 Dinge, die Sie spüren können: (z.B. die Füße auf dem Boden, den Stoff Ihrer Kleidung, die Lehne des Stuhls im Rücken, die Kühle der Tischplatte).
3 Dinge, die Sie hören können: (z.B. das Summen des Kühlschranks, den Verkehr draußen, Ihren eigenen Atem).
2 Dinge, die Sie riechen können: (z.B. den Duft von Kaffee, das Parfüm auf Ihrer Haut, die frische Luft am Fenster).
1 Ding, das Sie schmecken können: (z.B. der Nachgeschmack Ihres Getränks, ein Bonbon, oder einfach die Wahrnehmung Ihres eigenen Mundes).

Das Wichtigste in Kürze

  • Angst ist keine Charakterschwäche, sondern eine physiologische Reaktion des Nervensystems, die durch gezielte Techniken reguliert werden kann.
  • „Bottom-up“-Methoden, die am Körper ansetzen (Atmung, Sinneswahrnehmung), sind in akuten Angstsituationen oft wirksamer als rein kognitive Ansätze.
  • Akzeptanz der körperlichen Symptome anstelle des Kampfes dagegen ist ein strategischer Schritt, um den Teufelskreis der Angst zu durchbrechen.

Die Psyche im Griff der Sucht: Wie Abhängigkeit das Denken, Fühlen und die Persönlichkeit verändert

Auf den ersten Blick scheint das Thema Sucht weit von Angststörungen entfernt zu sein. Doch bei genauerer Betrachtung offenbart sich eine tiefe und oft übersehene Verbindung: Viele süchtige Verhaltensweisen sind in ihrem Kern ein verzweifelter Versuch, ein dysreguliertes Nervensystem zu beruhigen. Sie sind eine erlernte, aber letztlich dysfunktionale Strategie zur Selbstmedikation gegen innere Unruhe, Leere oder eben chronische Angst. Dies gilt nicht nur für Substanzabhängigkeiten wie Alkohol oder Drogen, sondern auch für Verhaltenssüchte.

Stellen Sie sich eine Person mit einer sozialen Angststörung vor. Das ständige Gefühl der Bedrohung in sozialen Situationen ist unerträglich. Das unbewusste Greifen zum Smartphone, das endlose Scrollen durch soziale Medien, bietet eine kurzfristige Flucht. Es lenkt ab, es schafft eine scheinbare Verbindung ohne die gefühlte Gefahr der direkten Interaktion. Langfristig wird dieses Verhalten jedoch zu einer eigenen Falle. Das Gehirn lernt: „Wenn ich mich ängstlich fühle, beruhigt mich das Scrollen.“ Das Belohnungssystem wird aktiviert, und ein zwanghaftes Muster entsteht. Die ursprüngliche Angst wird nicht gelöst, sondern nur kurzzeitig betäubt, während eine neue Abhängigkeit das Denken, Fühlen und die Persönlichkeit zunehmend dominiert.

Die Persönlichkeit verändert sich, weil das Leben immer mehr um die Beschaffung des „Stoffs“ oder die Ausübung des Verhaltens kreist. Interessen verkümmern, soziale Beziehungen leiden, die Fähigkeit, Frustration auszuhalten, sinkt. Das Denken wird rigide und auf das Suchtmittel fokussiert. Das Fühlen wird paradox: Während das Suchtverhalten kurzfristig negative Gefühle dämpfen soll, führt es langfristig zu einer emotionalen Verflachung und verstärkt Gefühle von Scham und Schuld. Die Psyche gerät in einen Teufelskreis, in dem die Sucht zur einzigen bekannten Antwort auf jegliches Unbehagen wird. Ein möglicher Ansatzpunkt in der Forschung ist die Interaktion von Substanzen wie CBD mit dem Serotonin-System, wie erste Erklärungsmodelle nahelegen. Anders als psychoaktive Substanzen zeigt CBD laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) selbst kein Suchtpotenzial, was es zu einem interessanten Forschungsgegenstand für regulierende Ansätze macht.

Der Ausstieg aus diesem Kreislauf erfordert, die zugrunde liegende Angst zu adressieren, anstatt nur das Suchtverhalten zu bekämpfen. Es ist essenziell zu erkennen, wie tief die Sucht als Bewältigungsstrategie verwurzelt ist.

Um die Kontrolle zurückzugewinnen, müssen Sie lernen, Ihrem Nervensystem auf gesunde Weise das zu geben, was es sucht: Sicherheit und Regulation. Beginnen Sie noch heute damit, die hier vorgestellten Techniken anzuwenden und Ihren Körper als Verbündeten statt als Feind zu betrachten.

Geschrieben von Dr. Lena Richter, Dr. Lena Richter ist eine approbierte psychologische Psychotherapeutin mit 10 Jahren Erfahrung in der Behandlung von Suchterkrankungen und Angststörungen.