
Sie erkennen den geliebten Menschen nicht wieder und fragen sich, ob er sich bewusst dafür entscheidet, Sie zu verletzen. Die Realität ist komplexer: Sucht ist kein reiner Willensakt, sondern ein psychologischer Parasit, der die Persönlichkeit von innen aushöhlt. Er kapert das Gehirn, schreibt die Logik um und untergräbt die Gefühlswelt, bis die Sucht-Logik das Handeln dominiert. Diesen Mechanismus zu verstehen, ist der erste Schritt, um mit dem scheinbar irrationalen Verhalten umgehen zu können.
Es ist eine der schmerzhaftesten Erfahrungen für Angehörige: Der Mensch, den man liebt – der Partner, das Kind, ein Freund –, scheint sich vor den eigenen Augen aufzulösen. An die Stelle von Vertrauen treten Lügen, an die von Verlässlichkeit das Chaos, und die emotionale Verbindung wird durch eine unberechenbare Achterbahnfahrt der Gefühle ersetzt. Man fragt sich unentwegt: „Warum tut er das?“, „Warum hört er nicht einfach auf?“.
Die gängigen Antworten, wie der Hinweis auf eine schwache Willenskraft oder schlechte Moral, greifen zu kurz und sind oft verletzend. Sie ignorieren die tiefgreifenden neurobiologischen und psychologischen Umwälzungen, die eine Abhängigkeit im Inneren eines Menschen anrichtet. Die Sucht ist weit mehr als nur der wiederholte Konsum einer Substanz oder ein zwanghaftes Verhalten. Sie ist eine fortschreitende Krankheit, die das Gehirn neu vernetzt und die fundamentalen Bausteine der Persönlichkeit – unser Denken, Fühlen und unsere Werte – erodiert.
Doch wenn die wahre Ursache nicht im Charakter, sondern in der gekaperten Psyche liegt, wie können wir dieses fremde Verhalten dann einordnen? Dieser Artikel verfolgt genau diesen Ansatz. Anstatt die Symptome nur zu beschreiben, tauchen wir tief in die psychologischen Mechanismen ein. Wir beleuchten, wie die Sucht die Kontrolle über das Gehirn übernimmt, eine eigene, verzerrte Logik erschafft und die Persönlichkeit Stück für Stück zersetzt. Ziel ist es nicht, das Verhalten zu entschuldigen, sondern es zu erklären – und Ihnen als Angehörigem das Rüstzeug an die Hand zu geben, die Situation zu verstehen und sich selbst zu schützen.
Um die komplexen Zusammenhänge von Sucht und Persönlichkeitsveränderung greifbar zu machen, beleuchten wir in den folgenden Abschnitten die entscheidenden Aspekte dieses Prozesses. Der Artikel führt Sie schrittweise von den neurobiologischen Grundlagen bis hin zu den konkreten Auswirkungen auf das Zusammenleben.
Inhalt: Wie Sucht die Persönlichkeit von Grund auf verändert
- Die Anatomie des Verlangens: Was im Gehirn bei Sucht passiert
- Rituale und Trigger: Wie das Umfeld die Sucht steuert
- „Ich habe alles im Griff“: Die Psychologie der Verleugnung bei Suchterkrankungen
- Craving überwinden: Konkrete Strategien gegen das akute Verlangen
- Wenn die Sucht nicht allein kommt: Über die häufige Verbindung von Abhängigkeit und Depression
- Die Anatomie des Verlangens: Was im Gehirn bei Sucht passiert
- Co-Abhängigkeit: Wenn die Sucht eines anderen das eigene Leben bestimmt
- Sucht ist eine Krankheit, keine Charakterschwäche: Ein umfassendes Verständnis von Abhängigkeit
Die Anatomie des Verlangens: Was im Gehirn bei Sucht passiert
Um die Persönlichkeitsveränderung eines Süchtigen zu verstehen, müssen wir zunächst einen Blick auf die Schaltzentrale werfen: das Gehirn. Die Sucht kapert hier einen fundamentalen Mechanismus, der eigentlich unser Überleben sichern soll – das Belohnungssystem. Dieses System schüttet bei positiven Erfahrungen wie Essen oder sozialer Interaktion Dopamin aus und erzeugt ein Gefühl der Zufriedenheit. Suchtmittel oder -verhalten manipulieren dieses System jedoch, indem sie es mit Dopamin fluten und so ein unnatürlich starkes „High“ erzeugen.
Das Gehirn versucht, sich an diese ständige Überstimulation anzupassen. Es reduziert die Anzahl der Dopamin-Rezeptoren, was dazu führt, dass normale Freuden des Lebens immer weniger Freude bereiten. Gleichzeitig wird der präfrontale Kortex (PFC), der für rationales Denken, Impulskontrolle und langfristige Planung zuständig ist, systematisch geschwächt. Er ist quasi der „Erwachsene im Raum“, der sagt: „Halt, das ist keine gute Idee.“ Bei fortschreitender Sucht verliert diese Kontrollinstanz an Einfluss. Wie neurologische Studien mittels fMRT-Untersuchungen zeigen, verliert der präfrontale Kortex bei Suchtverhalten seine hemmende Kontrollfunktion. Das Gehirn lernt, auf das Verlangen impulsiv zu reagieren, anstatt die Konsequenzen abzuwägen.
Diese Schwächung der Impulskontrolle ist besonders bei jungen Menschen ein kritischer Faktor. Die Neurowissenschaftlerin Dr. Frances Jensen betont in diesem Zusammenhang oft die Entwicklungsphase des Gehirns. StudySmarter fasst dies in einer Analyse prägnant zusammen:
Der präfrontale Kortex entwickelt sich im menschlichen Gehirn bis weit ins Erwachsenenalter hinein. Studien zeigen, dass die volle funktionale Reife erst im Alter zwischen 25 und 30 Jahren erreicht wird, was erklärt, warum junge Erwachsene oft riskantere Entscheidungen treffen.
– StudySmarter, Neurowissenschaftliche Analyse des präfrontalen Kortex
Diese biologische Tatsache macht deutlich, warum ein früher Kontakt mit Suchtmitteln so verheerende Folgen haben kann: Die Sucht trifft auf ein Gehirn, dessen Kontrollzentrum noch nicht vollständig ausgereift ist. Die Persönlichkeits-Erosion beginnt somit auf der fundamentalsten Ebene: der Unfähigkeit, einem Impuls zu widerstehen, obwohl der Verstand die negativen Folgen kennt.
Rituale und Trigger: Wie das Umfeld die Sucht steuert
Das süchtige Gehirn agiert nicht im luftleeren Raum. Es wird durch äußere Reize, sogenannte Trigger, ständig aktiviert. Diese Trigger sind das Ergebnis eines Lernprozesses, der als klassische Konditionierung bekannt ist – ähnlich wie bei Pawlows Hunden, die beim Klang einer Glocke Speichelfluss entwickelten. Das Gehirn eines Süchtigen verknüpft bestimmte Personen, Orte, Geräusche oder sogar Tageszeiten untrennbar mit dem Konsum und der erwarteten Belohnung.
Ein trockener Alkoholiker, der an seiner ehemaligen Stammkneipe vorbeigeht, ein Spieler, der das Geräusch von Münzen hört, oder ein Kokainabhängiger, der einen Geldschein sieht – all das sind extrem starke Trigger, die das Verlangen (Craving) fast automatisch auslösen. Das Gehirn reagiert auf diese Reize mit einer neuronalen Aktivität, die bereits die Vorfreude auf die Belohnung signalisiert. Dieser Mechanismus ist so tief verankert, dass er oft unbewusst abläuft. Die Hand greift nach dem Glas, noch bevor der bewusste Gedanke gefasst ist.

Um diese Trigger herum bauen sich feste Sucht-Rituale auf. Das kann die Zigarette zum Morgenkaffee sein, der Joint nach der Arbeit oder das Glas Wein beim Kochen. Diese Rituale geben dem Tag eine Struktur und sind tief im Alltag verwurzelt. Für Angehörige sind sie oft schwer zu erkennen, da sie als „normale“ Gewohnheiten getarnt sind. Doch für den Süchtigen sind sie ein entscheidender Teil des Suchtzyklus. Das Ritual selbst wird zu einem beruhigenden Anker, der das eigentliche Konsumverhalten einleitet und legitimiert. Die Zerstörung dieser Rituale ist daher ein zentraler und extrem schwieriger Teil jeder Therapie.
Das Verständnis für Trigger und Rituale ist für Angehörige essenziell. Es erklärt, warum ein Süchtiger in bestimmten Situationen scheinbar „grundlos“ einen Rückfall erleidet oder warum der Versuch, ihn von bestimmten Freunden oder Orten fernzuhalten, auf so heftigen Widerstand stößt. Es ist kein Mangel an Willen, sondern eine tief konditionierte, fast reflexartige Reaktion seines Gehirns auf eine Welt, die voller Minenfelder für sein Verlangen ist.
„Ich habe alles im Griff“: Die Psychologie der Verleugnung bei Suchterkrankungen
„Ich habe kein Problem.“ „Ich kann jederzeit aufhören.“ „Das war nur eine Ausnahme.“ Diese Sätze sind für Angehörige zermürbend und wirken wie offensichtliche Lügen. Doch aus der Perspektive des Süchtigen sind sie oft mehr als das: Sie sind die zentralen Bausteine einer komplexen Verleugnungs-Architektur. Die Verleugnung ist der stärkste psychologische Schutzmechanismus der Sucht. Sie dient nicht primär dazu, andere zu täuschen, sondern den Betroffenen selbst vor der schmerzhaften Realität seiner Abhängigkeit zu schützen.
Die Konfrontation mit dem vollen Ausmaß des Kontrollverlusts und des angerichteten Schadens würde unerträgliche Scham-, Schuld- und Angstgefühle auslösen. Um diesen Schmerz zu vermeiden, erschafft die Psyche eine alternative Realität, eine „Sucht-Logik“, in der das eigene Verhalten rationalisiert und verharmlost wird. Lügen werden zu einem überlebenswichtigen Werkzeug, um dieses fragile Gedankengebäude aufrechtzuerhalten. Wenn Angehörige also fragen: „Warum lügst du ständig?“, lautet die psychologische Antwort: Weil die Wahrheit unerträglich wäre und den Zusammenbruch des gesamten Schutzsystems bedeuten würde.
Diese Sucht-Logik folgt ihren eigenen Regeln:
- Bagatellisierung: „So schlimm ist es doch gar nicht. Andere trinken viel mehr.“
- Rationalisierung: „Ich brauche das, um den Stress bei der Arbeit auszuhalten.“
- Projektion: „Du machst mir so viel Druck, kein Wunder, dass ich trinken muss.“
- Vergleich: „Wenigstens nehme ich keine harten Drogen wie XY.“
Diese Verzerrung des Denkens ist einer der Gründe, warum die Persönlichkeit eines Süchtigen so fremd wirkt. Die Person, die man als ehrlich und selbstreflektiert kannte, argumentiert plötzlich verdreht und scheint blind für die offensichtlichsten Fakten. Diese kognitiven Verzerrungen sind keine bewusste Bosheit, sondern ein Symptom der Krankheit – ein verzweifelter Versuch der Psyche, die Koexistenz mit dem psychologischen Parasiten der Sucht zu ermöglichen. Der Betroffene glaubt oft selbst an seine Ausreden, weil der Glaube daran existenziell notwendig ist.
Craving überwinden: Konkrete Strategien gegen das akute Verlangen
Craving – das akute, oft übermächtig erscheinende Verlangen nach dem Suchtmittel – ist der Motor, der die Abhängigkeit antreibt. Es ist kein einfaches „Lusthaben“, sondern ein Zustand, der Körper und Psyche in einen Ausnahmezustand versetzt. Es fühlt sich an wie extremer Hunger oder Durst, begleitet von innerer Unruhe, Anspannung, Reizbarkeit und obsessiven Gedanken, die sich nur um die Beschaffung und den Konsum drehen. Für viele Betroffene ist dieser Druck kaum auszuhalten. In Deutschland ist dieses Problem weit verbreitet. So zeigen aktuelle Erhebungen zu Cannabis, dass von den 5 Millionen Erwachsenen, die Erfahrung mit der Substanz haben, rund 515.000 die Kriterien einer Abhängigkeit erfüllen und somit regelmäßig mit Craving konfrontiert sind.
Das Craving zu überwinden, ist eine der größten Herausforderungen auf dem Weg aus der Sucht. Doch es gibt konkrete Strategien, die Betroffene erlernen können, um diesen Wellen des Verlangens nicht schutzlos ausgeliefert zu sein. Der Schlüssel liegt darin, das Craving nicht zu bekämpfen, sondern es zu „surfen“ – also zu akzeptieren, dass es da ist, aber zu wissen, dass es auch wieder abebbt. Ein wesentlicher Teil der Therapie besteht darin, dysfunktionale Bewältigungsstrategien (Konsum) durch funktionale zu ersetzen.
Zu den wirksamsten Strategien gehören:
- Ablenkung: Sich sofort einer anderen, fordernden Tätigkeit widmen (Sport, ein Anruf bei einem Freund, laute Musik hören).
- Trigger-Management: Bewusst Situationen, Orte oder Personen meiden, die das Craving auslösen.
- Achtsamkeitsübungen: Das Verlangen beobachten, ohne darauf zu reagieren. Den Drang wie eine Welle kommen und gehen sehen.
- Soziale Unterstützung: Eine Vertrauensperson oder eine Selbsthilfegruppe anrufen.
- Alternative Ansätze: Einige Betroffene erkunden unterstützende Maßnahmen, um Entzugserscheinungen und Craving zu lindern. Hierzu gehört auch der Einsatz von Substanzen, die das Belohnungssystem nicht aktivieren, aber beruhigend wirken können.
Ihr persönlicher Notfallplan gegen Craving: Punkte zum Überprüfen
- Trigger identifizieren: Listen Sie alle Situationen, Personen und Gefühle auf, die bei Ihnen akutes Verlangen auslösen.
- Bestehende Reaktionen sammeln: Notieren Sie ehrlich, wie Sie bisher auf diese Trigger reagiert haben (z. B. sofort konsumiert, unruhig geworden).
- Strategien abgleichen: Wählen Sie für jeden Trigger 2-3 neue, gesunde Bewältigungsstrategien aus der obigen Liste aus, die Sie stattdessen anwenden wollen.
- Unterstützungsnetzwerk aktivieren: Schreiben Sie die Namen und Nummern von 3 Personen auf, die Sie im Notfall anrufen können. Machen Sie diesen Plan sichtbar.
- Erfolge festhalten: Führen Sie ein kurzes Tagebuch darüber, wann Sie es geschafft haben, einem Craving zu widerstehen, und was Ihnen dabei geholfen hat.
Für Angehörige ist es wichtig zu wissen, dass Craving ein echtes, physisch und psychisch spürbares Leid ist. Den Betroffenen in diesen Momenten zu unterstützen, ohne die Sucht zu ermöglichen, ist ein schmaler Grat. Verständnis für den inneren Kampf kann dabei helfen, geduldiger zu sein, ohne die notwendigen Grenzen aufzuweichen.
Wenn die Sucht nicht allein kommt: Über die häufige Verbindung von Abhängigkeit und Depression
Selten kommt eine Sucht allein. Sehr häufig tritt sie gemeinsam mit anderen psychischen Erkrankungen auf, insbesondere mit Depressionen und Angststörungen. Diese sogenannte Komorbidität ist kein Zufall, sondern ein Teufelskreis. Oft ist die psychische Vorerkrankung zuerst da: Menschen mit Depressionen oder Ängsten greifen zu Suchtmitteln, um ihre negativen Gefühle zu betäuben, ihre Hemmungen zu lösen oder einfach nur für einen kurzen Moment Erleichterung zu spüren. Der Konsum wird zur Selbstmedikation.
Diese „Lösung“ hat jedoch einen hohen Preis. Langfristig verstärken die meisten Suchtmittel die Symptome von Depression und Angst. Alkohol ist beispielsweise ein Depressivum, das die Stimmung nach kurzer Euphorie nachhaltig drückt. Der ständige Kreislauf aus Konsum und Entzug führt zu massiven Stimmungsschwankungen und einer tiefen emotionalen Erschöpfung. Für Angehörige bedeutet das, mit einer Person zu leben, deren Gefühlsleben extrem unberechenbar ist – von euphorischen Hochs bis zu abgrundtiefen Tiefs. Diese emotionale Kaperung ist ein Kernmerkmal der Persönlichkeitsveränderung.

Die Forschung untersucht intensiv, wie alternative Ansätze hier helfen könnten. Substanzen, die nicht psychoaktiv wirken, aber potenziell angstlösende Eigenschaften haben, rücken in den Fokus. So zeigte eine Studie aus dem Jahr 2024 zur Wirkung von CBD bei sozialer Phobie beispielsweise eine signifikante Verbesserung der Angstsymptome. Die Teilnehmer, die Cannabidiol einnahmen, berichteten über eine durchschnittliche Reduktion ihrer Angst um 32 %. Solche Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Behandlung der zugrundeliegenden psychischen Belastung ein Schlüssel zur Bewältigung der Sucht sein könnte.
Für Angehörige ist die Erkenntnis der Komorbidität entscheidend. Die extremen Stimmungsschwankungen oder die tiefe Antriebslosigkeit des Betroffenen sind nicht unbedingt nur eine direkte Folge des Konsums, sondern oft auch Symptom einer eigenständigen depressiven Erkrankung. Eine erfolgreiche Behandlung muss daher immer beide Störungen adressieren. Die Sucht zu behandeln, ohne die Depression zu beachten (oder umgekehrt), ist meist zum Scheitern verurteilt.
Die Anatomie des Verlangens: Wie im Gehirn bei Sucht passiert
Während wir bereits die Rolle des präfrontalen Kortex als Kontrollzentrum beleuchtet haben, ist es entscheidend, den Motor des Verlangens noch tiefer zu verstehen: das mesolimbische Dopaminsystem, besser bekannt als das Belohnungssystem. Dieses System ist nicht für „Glück“ im eigentlichen Sinne zuständig, sondern für Motivation und Lernen. Es signalisiert dem Gehirn: „Das war wichtig! Mach das noch einmal!“
Suchtmittel kapern diesen Motivationsschaltkreis auf brutale Weise. Sie sorgen für eine Dopaminausschüttung, die um ein Vielfaches höher ist als bei jeder natürlichen Belohnung. Das Gehirn lernt dadurch eine fatale Lektion: Das Suchtmittel ist das Wichtigste auf der Welt, überlebenswichtiger als Essen, soziale Bindungen oder Sicherheit. Alle anderen Ziele verblassen dagegen. Diese Umprogrammierung der Prioritäten ist die eigentliche Persönlichkeits-Erosion. Interessen, Hobbys, Werte und sogar die Liebe zu nahestehenden Menschen werden nach und nach von dem einen überragenden Ziel verdrängt: der Beschaffung des nächsten Rausches.
Dieser Prozess erklärt, warum ein ehemals fürsorglicher Mensch plötzlich egoistisch und rücksichtslos handelt. Aus Sicht seines gekaperten Gehirns ist dieses Verhalten völlig logisch, denn es dient dem neuen, obersten Lebensziel. Die Sucht agiert hier wie ein psychologischer Parasit, der die Ressourcen seines Wirtes für seine eigene Fortpflanzung – den fortgesetzten Konsum – nutzt.
Die Forschung sucht nach Wegen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Interessant sind hier Ansätze, die versuchen, das Verlangen zu reduzieren, ohne selbst abhängig zu machen. So deuten Studien zur Rolle von CBD beim THC-Entzug darauf hin, dass Cannabidiol helfen kann, Entzugserscheinungen zu mildern und den Konsum von Cannabis zu reduzieren. Solche Ansätze zielen darauf ab, dem Gehirn eine Pause von der ständigen Jagd nach dem Dopamin-Kick zu verschaffen und so Raum für neue, gesunde Lernprozesse zu schaffen.
Co-Abhängigkeit: Wenn die Sucht eines anderen das eigene Leben bestimmt
Während der Süchtige im Teufelskreis seiner eigenen Psyche gefangen ist, entwickelt sich im Umfeld oft eine parallele Leidensdynamik: die Co-Abhängigkeit. Dieser Begriff wird oft missverstanden und fälschlicherweise mit „Helfersyndrom“ gleichgesetzt. Doch Co-Abhängigkeit ist komplexer. Es beschreibt ein Verhaltensmuster, bei dem Angehörige unbewusst Teil des Suchtsystems werden und es dadurch – gegen ihre eigentliche Absicht – stabilisieren.
Co-abhängiges Verhalten entsteht aus Liebe, Angst und dem verzweifelten Wunsch, die Situation zu kontrollieren und den geliebten Menschen zu retten. Typische Verhaltensweisen sind:
- Kontrollieren: Das Verstecken von Alkohol, das Durchsuchen von Taschen, ständige Anrufe.
- Retten und Vertuschen: Den Partner bei der Arbeit krankmelden, Schulden bezahlen, Ausreden für sein Verhalten erfinden.
- Anpassen: Das eigene Leben komplett um die Sucht herum organisieren, soziale Kontakte abbrechen, um Konflikte zu vermeiden.
- Leiden: Die eigenen Bedürfnisse und Gefühle komplett zurückstellen und sich selbst aufgeben.
Das Fatale daran ist: Jede dieser Handlungen nimmt dem Süchtigen die Konsequenzen seines Handelns ab. Wenn die Schulden immer bezahlt werden und die Lügen immer gedeckt werden, spürt er den Schmerz nicht, den sein Verhalten verursacht. Der Leidensdruck, der für eine Veränderung notwendig wäre, entsteht nicht bei ihm, sondern verlagert sich vollständig auf den Angehörigen. Der Co-Abhängige wird zum Stoßdämpfer des Systems.
Der Weg aus der Co-Abhängigkeit ist schmerzhaft, aber notwendig. Er beginnt mit der Erkenntnis: „Ich kann ihn nicht kontrollieren oder heilen. Ich kann nur für mich selbst verantwortlich sein.“ Das bedeutet, gesunde Grenzen zu setzen. Nicht mehr zu lügen, keine Schulden mehr zu übernehmen und klar zu kommunizieren, welches Verhalten nicht mehr toleriert wird. Das ist kein Akt der Lieblosigkeit, sondern im Gegenteil der einzig liebevolle Weg: Er gibt dem Süchtigen die Chance, die Realität zu spüren und vielleicht den Tiefpunkt zu erreichen, der für eine Veränderungsbereitschaft nötig ist.
Das Wichtigste in Kürze
- Sucht ist keine Charakterschwäche, sondern eine Krankheit, die das Gehirn und die Psyche kapert.
- Die Persönlichkeitsveränderung (Lügen, Egoismus) ist Folge einer „Sucht-Logik“, die dem Schutz der Abhängigkeit dient.
- Für Angehörige ist das Setzen von Grenzen und die Sorge für die eigene Gesundheit entscheidend, um das Suchtsystem nicht unbewusst zu stützen.
Sucht ist eine Krankheit, keine Charakterschwäche: Ein umfassendes Verständnis von Abhängigkeit
Nachdem wir die neurobiologischen, psychologischen und sozialen Facetten der Sucht beleuchtet haben, wird eines deutlich: Die Vorstellung, Abhängigkeit sei eine Frage der Willensstärke oder des Charakters, ist nicht nur falsch, sondern auch schädlich. Sie führt zu Stigmatisierung, Schuldzuweisungen und verhindert, dass Betroffene und ihre Familien die Hilfe suchen, die sie dringend benötigen. Sucht ist eine anerkannte, komplexe und oft chronische Erkrankung des Gehirns, die jeden treffen kann, unabhängig von Alter, Geschlecht oder sozialem Status.
Die Anerkennung als Krankheit hat weitreichende Konsequenzen. Sie bedeutet, dass Sucht behandelbar ist, auch wenn der Weg dorthin lang und steinig sein kann. Sie erfordert einen therapeutischen Ansatz, der alle Ebenen einbezieht: die biologische (z. B. durch medikamentöse Unterstützung beim Entzug), die psychologische (durch Therapie zur Aufarbeitung von Ursachen und zum Erlernen von Bewältigungsstrategien) und die soziale (durch Selbsthilfegruppen und die Einbeziehung des Umfelds). Die Frage „Kann sich ein Süchtiger wirklich ändern?“ kann daher mit „Ja“ beantwortet werden – aber es erfordert professionelle Hilfe und eine enorme Anstrengung des Betroffenen.
Fallbeispiel: Therapeutische Ansätze bei Komorbidität
Wie die Behandlung aussehen kann, wenn Sucht und Depression zusammenfallen, illustriert ein dokumentierter Einzelfall-Bericht über den Einsatz von CBD. Ein Patient, der sowohl an einer Suchterkrankung als auch an einer Depression litt, konnte unter der Behandlung mit CBD-Tropfen den Konsum illegaler Drogen, einschließlich THC, einstellen, ohne unter starken Entzugserscheinungen zu leiden. Dieser Fall zeigt, wie wichtig es ist, innovative und ganzheitliche Ansätze zu erforschen, die sowohl die Sucht als auch die begleitenden psychischen Störungen adressieren.
Für Angehörige ist diese Perspektive eine enorme Entlastung. Wenn Sie verstehen, dass Sie nicht gegen den geliebten Menschen, sondern gegen eine mächtige Krankheit ankämpfen, können Sie Wut und Enttäuschung besser kanalisieren. Es erlaubt Ihnen, das Verhalten (das Symptom der Krankheit) von der Person zu trennen. Ihr Ziel sollte es nicht sein, den Süchtigen zu „heilen“, sondern ein Umfeld zu schaffen, in dem Heilung möglich wird – und das beginnt damit, die eigene Gesundheit zu schützen und klare Grenzen zu ziehen.
Der erste und wichtigste Schritt für Sie als Angehöriger ist, dieses Wissen zu nutzen, um die eigene Situation zu schützen und den Teufelskreis zu durchbrechen. Suchen Sie aktiv nach Informationen und Beratungsstellen für Angehörige von Suchtkranken, um wieder Stabilität und Handlungsfähigkeit für sich selbst zu gewinnen.