Veröffentlicht am März 11, 2024

Angehörige fühlen sich oft hilflos angesichts des unverständlichen Verhaltens eines Alkoholabhängigen. Dieser Artikel erklärt Alkoholismus nicht als moralisches Versagen, sondern als eine klinisch definierte Krankheit des Gehirns. Das Verständnis der neurobiologischen Prozesse, der Symptome wie Verleugnung und der Notwendigkeit einer ärztlich begleiteten Behandlung ist der erste Schritt, um den Kreislauf zu durchbrechen und wirksame Hilfe zu finden.

Sie beobachten es vielleicht schon länger: das heimliche Trinken, die gebrochenen Versprechen, die unerklärlichen Stimmungsschwankungen. Sie fühlen sich machtlos, wütend und erschöpft. Sie fragen sich, warum die Person, die Sie lieben, nicht einfach aufhören kann. Die gängige Annahme, es sei eine Frage des Willens, führt oft in eine Sackgasse aus Vorwürfen und Schuldgefühlen. Ratschläge wie „Trink doch einfach weniger“ oder „Reiß dich zusammen“ verkennen die tiefgreifende Natur der Erkrankung und verstärken nur das Gefühl des Versagens bei allen Beteiligten.

Doch was wäre, wenn das Problem nicht im Charakter, sondern in der Biologie des Gehirns liegt? Was, wenn das Verhalten, das Sie als Schwäche interpretieren, in Wirklichkeit ein Symptomkomplex einer chronischen Krankheit ist? Genau hier setzen wir an. Dieser Artikel beleuchtet Alkoholismus aus einer medizinischen Perspektive und entmystifiziert die Erkrankung. Wir werden die zugrundeliegenden Mechanismen erklären, die aus Genuss eine Abhängigkeit machen und die Kontrolle über das eigene Handeln systematisch untergraben.

Indem wir Alkoholismus als das betrachten, was er ist – eine behandelbare Krankheit des zentralen Nervensystems –, eröffnen wir einen neuen Weg. Einen Weg, der von Vorwürfen weg und hin zu Verständnis, von Hilflosigkeit hin zu konkreten Handlungsstrategien führt. Wir werden den schleichenden Prozess der Suchtentwicklung nachzeichnen, die medizinische Notwendigkeit eines qualifizierten Entzugs aufzeigen, die oft übersehene Belastung der Co-Abhängigen thematisieren und schließlich Wege in ein stabiles, nüchternes Leben aufzeigen. Es geht darum, Wissen zu vermitteln, das Ihnen und dem Betroffenen die Macht zurückgibt.

Dieser Leitfaden bietet Ihnen einen strukturierten Überblick über die verschiedenen Facetten der Alkoholabhängigkeit. Entdecken Sie die klinischen Hintergründe, die Auswirkungen auf das soziale Umfeld und die bewährten Wege zur Genesung.

Vom Genuss zur Sucht: Die schleichende Grenze zum Alkoholismus

Niemand beschließt, alkoholabhängig zu werden. Der Weg dorthin ist fast immer ein schleichender Prozess, der mit gesellschaftlich akzeptiertem Genusstrinken beginnt. Das Glas Wein zum Abendessen, das Bier nach der Arbeit – diese Gewohnheiten sind tief in unserer Kultur verankert. Die Grenze wird jedoch dann überschritten, wenn Alkohol nicht mehr nur als Genussmittel dient, sondern eine Funktion erfüllt: zur Entspannung, zum Stressabbau, zur Überwindung von Schüchternheit oder zur Betäubung unangenehmer Gefühle. Hier beginnt der funktionale Konsum, eine kritische Phase auf dem Weg in die Abhängigkeit.

Ein erstes Warnsignal ist die steigende Toleranz. Der Körper gewöhnt sich an den Alkohol, und es wird eine immer größere Menge benötigt, um die gewünschte Wirkung zu erzielen. Parallel dazu entwickelt sich eine psychische Abhängigkeit: Der Gedanke an den nächsten Drink nimmt immer mehr Raum ein, soziale Aktivitäten ohne Alkohol werden vermieden. Das Problem ist weit verbreitet; laut aktuellen Erhebungen des Bundesgesundheitsministeriums konsumierten in Deutschland rund 8,6 Millionen Menschen riskante Mengen Alkohol. Diese Zahl verdeutlicht, dass es sich nicht um ein Randphänomen handelt.

Für Angehörige manifestiert sich dieser Übergang oft in einem Muster aus Verheimlichung und gebrochenen Versprechen. Leere Flaschen werden versteckt, der Konsum wird heruntergespielt. Was Sie als Täuschung wahrnehmen, ist aus klinischer Sicht ein zentrales Symptom der Suchterkrankung: der Kontrollverlust. Der Betroffene hat die Fähigkeit verloren, seinen Konsum willentlich zu steuern, auch wenn er die negativen Konsequenzen erkennt. Das Verständnis dieses Mechanismus ist entscheidend, um die Situation nicht moralisch, sondern medizinisch zu bewerten.

An diesem Punkt beginnt die Krankheit, das Leben zu dominieren. Berufliche Pflichten werden vernachlässigt, Hobbys und Freundschaften treten in den Hintergrund. Der Alkohol wird zum Lebensmittelpunkt. Das Erkennen dieser Verhaltensmuster ist der erste Schritt, um die unsichtbare Linie zu sehen, die zwischen riskantem Genuss und manifester Abhängigkeit verläuft.

Der qualifizierte Entzug: Warum Alkoholentzug unter ärztliche Aufsicht gehört

Die vielleicht gefährlichste Fehlannahme über Alkoholismus ist, dass man „einfach aufhören“ kann. Ein kalter Entzug ohne medizinische Begleitung ist bei einer fortgeschrittenen Alkoholabhängigkeit nicht nur extrem qualvoll, sondern potenziell lebensbedrohlich. Der Körper, der über Jahre an eine ständige Zufuhr von Alkohol gewöhnt wurde, reagiert auf das plötzliche Ausbleiben mit einer schweren neurochemischen Dysbalance. Dieses Phänomen wird als Alkoholentzugssyndrom bezeichnet und erfordert zwingend eine professionelle Intervention.

Die Symptome reichen von starkem Schwitzen, Zittern, Übelkeit und Herzrasen bis hin zu schweren Komplikationen. Dazu gehört das Delirium tremens, ein medizinischer Notfall, der mit Desorientierung, Halluzinationen und schweren Herz-Kreislauf-Störungen einhergeht und tödlich enden kann. Ebenso können epileptische Anfälle auftreten. Ein qualifizierter Entzug findet daher in einem geschützten Rahmen statt – stationär in einer Klinik oder unter engmaschiger ambulanter ärztlicher Aufsicht. Hier werden die Entzugssymptome mit Medikamenten kontrolliert, um den Prozess sicher und so erträglich wie möglich zu gestalten.

Diese medizinische Betreuung ist kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit, um die körperliche Integrität des Patienten zu schützen. Die visuelle Darstellung eines ruhigen, professionellen Umfelds unterstreicht die Bedeutung von Sicherheit und Fürsorge in dieser vulnerablen Phase.

Medizinische Betreuung während des Alkoholentzugs mit CBD-Unterstützung symbolisch dargestellt

Darüber hinaus ist der körperliche Entzug nur der erste Schritt. Die eigentliche Arbeit – die psychische Entwöhnung und die Vorbereitung auf ein Leben ohne Alkohol – beginnt erst danach. Ein qualifizierter Entzug ist daher immer in ein umfassendes Therapiekonzept eingebettet. Dieses umfasst psychotherapeutische Gespräche, die Aufarbeitung der Suchtursachen und die Entwicklung von Strategien zur Rückfallprävention. Der Versuch, diesen komplexen Prozess allein zu bewältigen, ist zum Scheitern verurteilt und birgt erhebliche Risiken.

Co-Abhängigkeit: Wenn die Sucht eines anderen das eigene Leben bestimmt

Alkoholismus wird oft als die Krankheit des Einzelnen betrachtet, doch sie ist in Wahrheit eine Familienkrankheit. Das Verhalten des Süchtigen zwingt die engsten Bezugspersonen – Partner, Kinder, Eltern – in ein System aus Reaktionen, das als Co-Abhängigkeit bezeichnet wird. Co-abhängige Menschen sind nicht selbst süchtig, aber ihr gesamtes Denken, Fühlen und Handeln wird von der Sucht des anderen beherrscht. Sie versuchen zu kontrollieren, zu helfen, zu vertuschen und nehmen dabei unbewusst dem Kranken die Verantwortung für sein Handeln ab.

Dieses Muster entwickelt sich schleichend. Es beginnt mit dem Entschuldigen des Betroffenen bei der Arbeit, dem Wegräumen leerer Flaschen vor dem Besuch oder dem Übernehmen aller familiären Pflichten. Co-Abhängige opfern ihre eigenen Bedürfnisse, sozialen Kontakte und ihre Gesundheit auf, in der ständigen, vergeblichen Hoffnung, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Dieser Zustand ist eine enorme psychische Belastung und ein eigenständiges Krankheitsbild, das ebenfalls professioneller Hilfe bedarf. Nach Schätzungen von Experten gibt es in Deutschland 8-10 Millionen co-abhängige Angehörige, was die Dimension dieses Problems unterstreicht.

Besonders dramatisch sind die Auswirkungen auf Kinder, die in einer Atmosphäre der Unberechenbarkeit, des Stresses und oft auch der Gewalt aufwachsen. Sie lernen, ihre eigenen Gefühle zu unterdrücken und übernehmen früh Verantwortung, um das fragile Familiensystem zu stabilisieren.

Fallbeispiel: Die „vergessenen“ Kinder

In Deutschland leben schätzungsweise 2,65 Millionen Kinder mit alkoholkranken Eltern. Diese Kinder erleben chronischen Stress und Unsicherheit. Studien zeigen, dass sie ein sechsfach höheres Risiko haben, selbst eine Suchterkrankung zu entwickeln. Oft leiden sie unter komplexen Traumafolgestörungen, Entwicklungsverzögerungen und einem geringen Selbstwertgefühl, da ihre eigenen Bedürfnisse systematisch ignoriert werden. Sie sind die stillen Opfer der Krankheit.

Der wichtigste Schritt für Co-Abhängige ist die Erkenntnis, dass sie den Alkoholkonsum des anderen nicht kontrollieren können. Sie können die Person nicht gesund lieben. Heilung beginnt damit, den Fokus wieder auf das eigene Wohlbefinden zu richten und gesunde Grenzen zu setzen. Dies bedeutet nicht, den Süchtigen fallen zu lassen, sondern aufzuhören, die Krankheit unbewusst zu unterstützen. Hilfe für Angehörige in Form von Selbsthilfegruppen (z. B. Al-Anon) oder therapeutischer Beratung ist hierfür unerlässlich.

Die versteckten Kosten: Was Alkoholismus die Gesellschaft und den Einzelnen wirklich kostet

Während der persönliche Leidensdruck für Betroffene und ihre Familien im Vordergrund steht, hat Alkoholismus auch immense volkswirtschaftliche Auswirkungen. Diese Kosten sind oft unsichtbar, belasten aber unser gesamtes Gesellschaftssystem erheblich. Sie setzen sich aus direkten und indirekten Posten zusammen. Die direkten Kosten umfassen alle Ausgaben im Gesundheitssystem: Behandlungen von Alkoholfolgeschäden wie Leberzirrhose oder Herzerkrankungen, Entzugstherapien und die Behandlung von Unfällen, die unter Alkoholeinfluss geschehen.

Weit größer sind jedoch die indirekten Kosten. Diese entstehen durch Produktivitätsverluste am Arbeitsplatz, sei es durch krankheitsbedingte Fehlzeiten, verminderte Leistungsfähigkeit (Präsentismus) oder Frühverrentungen. Hinzu kommen die Kosten für das Justizsystem durch alkoholbedingte Straftaten sowie die Ausgaben für soziale Sicherungssysteme. Insgesamt belaufen sich die volkswirtschaftlichen Kosten durch Alkoholkonsum in Deutschland auf 57,04 Milliarden Euro jährlich. Eine gewaltige Summe, die das Ausmaß des Problems auf gesellschaftlicher Ebene verdeutlicht.

Für den Einzelnen und seine Familie sind die finanziellen Belastungen ebenso gravierend. Die Ausgaben für Alkohol selbst können ein beträchtliches Loch in die Haushaltskasse reißen. Weit schlimmer sind jedoch die oft folgenden Konsequenzen: Jobverlust, Verschuldung und soziale Isolation. Die finanzielle Destabilisierung ist ein starker Stressfaktor, der die familiäre Krise weiter verschärft und den Weg aus der Sucht erschwert. Die folgende Aufschlüsselung, basierend auf Analysen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS), zeigt die Verteilung dieser enormen Kosten.

Aufschlüsselung der Alkoholfolgekosten in Deutschland
Kostenart Betrag (Mrd. Euro) Anteil
Direkte Kosten (Gesundheitssystem) 16,59 29%
Indirekte Kosten (Produktivitätsverluste) 40,44 71%
Gesamt 57,04 100%

Diese Zahlen machen deutlich, dass Alkoholismus keine Privatsache ist. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem mit tiefgreifenden ökonomischen Folgen. Prävention, frühzeitige Intervention und wirksame Behandlungsangebote sind daher nicht nur ein humanitärer Imperativ, sondern auch eine volkswirtschaftlich sinnvolle Investition.

Nüchtern auf Partys: Wie man ohne Alkohol Spaß haben und sozial sein kann

Eine der größten Ängste für Menschen in der Genesung ist die Vorstellung, soziale Anlässe nicht mehr genießen zu können. Partys, Feiern und Treffen mit Freunden sind in unserer Kultur oft untrennbar mit Alkoholkonsum verbunden. Die Sorge, als Außenseiter dazustehen oder keinen Spaß mehr zu haben, ist ein häufiger Grund für Rückfälle. Doch Nüchternheit bedeutet nicht das Ende des Soziallebens, sondern die Chance, es auf eine neue, authentischere Weise zu erleben.

Der Schlüssel liegt in der Vorbereitung und einer veränderten Einstellung. Es geht nicht darum, etwas zu vermissen, sondern darum, neue Gewohnheiten zu etablieren. Statt passiv am Glas zu hängen, kann man sich aktiv auf Gespräche, Aktivitäten oder das Tanzen konzentrieren. Die anfängliche Unsicherheit weicht oft der Erkenntnis, dass wahre Verbundenheit und Freude nicht von einer Substanz abhängen. Vielmehr ermöglicht die Nüchternheit tiefere und ehrlichere Interaktionen, frei von chemischer Enthemmung.

Die wachsende „Sober Curious“-Bewegung hat zudem zu einer Explosion an hochwertigen alkoholfreien Alternativen geführt. Elegante Mocktails, Craft-Limonaden oder auch CBD-haltige Getränke bieten ein Genusserlebnis, das weit über Wasser oder Cola hinausgeht. Selbstbewusst eine attraktive, alkoholfreie Alternative in der Hand zu halten, verändert die gesamte soziale Dynamik.

Elegante alkoholfreie Getränke mit CBD bei einer geselligen Veranstaltung

Es ist wichtig, sich auf die Frage „Warum trinkst du nichts?“ vorzubereiten. Eine einfache, klare und selbstbewusste Antwort wie „Ich trinke heute Abend nichts, danke“ oder „Ich verzichte gerade auf Alkohol“ genügt meist. Man ist niemandem eine Rechtfertigung schuldig. Die folgenden Strategien können helfen, gesellige Anlässe ohne Alkohol souverän zu meistern und sogar neu zu entdecken.

Ihr Aktionsplan für nüchterne Geselligkeit

  1. Antworten vorbereiten: Legen Sie sich eine kurze, schlagfertige Antwort auf die Frage „Warum trinkst du nichts?“ zurecht.
  2. Eigene Alternativen mitbringen: Bringen Sie Ihre eigenen hochwertigen, alkoholfreien Getränke mit, um nicht auf das Standardangebot angewiesen zu sein.
  3. Fokus auf Verbindungen: Konzentrieren Sie sich auf tiefe Gespräche und authentische Interaktionen statt auf passives Trinken.
  4. Aktiv teilnehmen: Engagieren Sie sich bei Aktivitäten wie Tanzen oder Spielen, um den Fokus vom Trinken wegzulenken.
  5. Unterstützendes Netzwerk aufbauen: Umgeben Sie sich mit Menschen, die Ihre Entscheidung respektieren oder ähnliche Werte teilen.

Vom Genuss zur Sucht: Die schleichende Grenze zum Alkoholismus

Wir haben den sozialen Übergang vom Genuss zur Sucht betrachtet. Doch was geschieht dabei auf biologischer Ebene im Gehirn? Die Antwort liegt im mesolimbischen System, besser bekannt als das Belohnungssystem. Dieses uralte Netzwerk ist dafür verantwortlich, überlebenswichtige Verhaltensweisen wie Essen oder soziale Interaktion durch die Ausschüttung von Botenstoffen wie Dopamin als lustvoll zu markieren und so deren Wiederholung zu fördern.

Alkohol kapert dieses System. Er führt zu einer unnatürlich starken Dopamin-Freisetzung, was ein intensives Gefühl von Euphorie und Belohnung erzeugt. Das Gehirn lernt schnell: Alkohol = starke Belohnung. Bei wiederholtem Konsum passt sich das Gehirn jedoch an diese künstliche Flut an. Dieser Prozess wird als Neuroadaptation bezeichnet. Das Gehirn reduziert seine eigene Dopamin-Produktion und baut Dopamin-Rezeptoren ab, um sich vor der Überstimulation zu schützen. Die Folge: Ohne Alkohol fühlt sich der Betroffene leer, antriebslos und dysphorisch, da das natürliche Belohnungsniveau nicht mehr ausreicht.

Gleichzeitig werden neuronale Schaltkreise im präfrontalen Kortex, der für Impulskontrolle und rationales Denken zuständig ist, geschwächt. Die Fähigkeit, langfristige Konsequenzen gegen den kurzfristigen Wunsch nach dem „Kick“ abzuwägen, nimmt ab. Das Verlangen nach Alkohol (Craving) wird zu einem übermächtigen, fast reflexartigen Impuls, während die rationale Kontrolle darüber erodiert. An diesem Punkt ist die Sucht keine Frage der Entscheidung mehr, sondern eine Störung der Gehirnfunktion. Neue Forschungen deuten darauf hin, dass unterstützende Therapien hier ansetzen können. Wie Prof. Dr. Dr. Patrick Bach vom ZI Mannheim erklärt, gibt es vielversprechende Ansätze:

Cannabidiol reduziert das Verlangen nach Alkohol signifikant – das zeigt unsere ICONIC-Studie mit ersten deutlichen Hinweisen auf die therapeutische Wirkung

– Prof. Dr. Dr. Patrick Bach, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim

Dieser neurobiologische Umbau erklärt, warum Willenskraft allein oft nicht ausreicht. Das Gehirn selbst ist so verändert, dass es den Konsum fordert, um einen als Mangel empfundenen Zustand auszugleichen. Die Sucht hat eine physische Grundlage geschaffen, die behandelt werden muss.

Der qualifizierte Entzug: Warum Alkoholentzug unter ärztliche Aufsicht gehört

Nachdem wir die unmittelbaren Gefahren eines kalten Entzugs beleuchtet haben, stellt sich die Frage: Wie sieht ein sicherer, qualifizierter Entzugsprozess konkret aus? Dieser Prozess ist mehr als nur das Absetzen des Alkohols; er ist eine strukturierte medizinische und therapeutische Intervention, die in der Regel in mehreren Phasen abläuft und individuell an den Patienten angepasst wird.

Die erste Phase ist die Kontakt- und Motivationsphase. Hier geht es darum, den Betroffenen zu einer Behandlung zu bewegen. Oft ist dies der schwierigste Schritt, da die Krankheit selbst die Einsicht in ihre Notwendigkeit blockiert. Sobald die Entscheidung für den Entzug gefallen ist, folgt die körperliche Entgiftung. Diese dauert in der Regel fünf bis zehn Tage und findet, wie erwähnt, unter ärztlicher Aufsicht statt. Die Vitalfunktionen werden engmaschig überwacht, und Medikamente (oft Benzodiazepine) werden eingesetzt, um Krampfanfälle und Delirien zu verhindern und die quälenden Entzugssymptome zu lindern.

Parallel zur körperlichen Stabilisierung beginnt die psychische Entwöhnungsphase. Diese ist der Kern der Suchttherapie und kann mehrere Wochen bis Monate dauern. In Einzel- und Gruppentherapien lernen die Patienten, die Ursachen ihrer Sucht zu verstehen, alternative Bewältigungsstrategien für Stress und negative Gefühle zu entwickeln und ein Leben ohne Alkohol zu planen. Hier werden auch neue, unterstützende Behandlungsansätze erforscht. Eine Studie am ZI Mannheim zeigte beispielsweise, dass eine Dosis von 800 mg CBD das Alkoholverlangen bei Patienten deutlich reduzierte, was auf eine modulierende Wirkung auf das Belohnungssystem hindeutet.

Die letzte und längste Phase ist die Nachsorge- und Rehabilitationsphase. Nach der stationären oder ambulanten Intensivtherapie geht es darum, die Nüchternheit im Alltag zu stabilisieren. Der Besuch von Selbsthilfegruppen, die Fortführung einer ambulanten Psychotherapie und der Aufbau eines stabilen sozialen Umfelds sind entscheidend für die langfristige Rückfallprävention. Ein Entzug ist kein einmaliges Ereignis, sondern der Beginn eines lebenslangen Genesungsprozesses.

Das Wichtigste in Kürze

  • Alkoholismus ist eine chronische Krankheit des Gehirns, bei der das Belohnungssystem fehlreguliert wird.
  • Ein kalter Entzug ist lebensgefährlich und muss immer unter ärztlicher Aufsicht (qualifizierter Entzug) erfolgen.
  • Co-Abhängigkeit ist eine ernstzunehmende Belastung für Angehörige, die ebenfalls professionelle Hilfe benötigen.

Sucht ist eine Krankheit, keine Charakterschwäche: Ein umfassendes Verständnis von Abhängigkeit

Nachdem wir die verschiedenen Facetten des Alkoholismus beleuchtet haben – vom schleichenden Beginn über die medizinischen Notwendigkeiten des Entzugs bis zu den sozialen und ökonomischen Kosten –, müssen wir zur zentralen Botschaft zurückkehren: Sucht ist eine Krankheit, keine Frage der Moral oder des Charakters. Das Stigma, das Alkoholabhängige umgibt, ist eine der größten Hürden auf dem Weg zur Genesung. Es hält Betroffene davon ab, Hilfe zu suchen, und lässt Angehörige in einem Teufelskreis aus Scham, Wut und Schuldgefühlen zurück.

Das Krankheitsmodell des Alkoholismus basiert auf jahrzehntelanger Forschung in der Neurobiologie, Genetik und Psychologie. Wir wissen heute, dass genetische Veranlagungen das Risiko für eine Suchtentwicklung erhöhen können. Wir verstehen, wie chronischer Alkoholkonsum die Struktur und Funktion des Gehirns nachhaltig verändert (Neuroadaptation), insbesondere in den Bereichen, die für Belohnung, Gedächtnis und Impulskontrolle zuständig sind. Das Verhalten, das von außen als willensschwach oder unverantwortlich erscheint, ist in Wahrheit das Resultat dieser tiefgreifenden biologischen Veränderungen.

In Deutschland leben derzeit schätzungsweise 2,2 Millionen Menschen, die die diagnostischen Kriterien für eine Alkoholabhängigkeit erfüllen. Diese Menschen sind nicht moralisch unterlegen; sie leiden an einer komplexen, chronischen Erkrankung, die jeden treffen kann – unabhängig von sozialem Status, Bildung oder Alter. Die Anerkennung des Alkoholismus als Krankheit hat weitreichende Konsequenzen: Sie entlastet Betroffene und Angehörige von lähmenden Schuldgefühlen. Sie legitimiert den Anspruch auf eine professionelle medizinische Behandlung, genau wie bei Diabetes oder Bluthochdruck. Und sie ebnet den Weg für Empathie statt Verurteilung.

Dieses Verständnis ist die Grundlage für jede wirksame Hilfe. Wenn Angehörige verstehen, dass sie nicht gegen den Willen der Person, sondern gegen die Symptome einer Krankheit ankämpfen, verändert sich ihre Herangehensweise. Es geht nicht mehr darum zu überreden, sondern darum, professionelle Hilfe zu ermöglichen und gesunde Grenzen zu setzen, um nicht selbst im System der Co-Abhängigkeit unterzugehen. Die Akzeptanz des Krankheitsmodells ist der erste und wichtigste Schritt zur Heilung – für den Betroffenen und sein gesamtes Umfeld.

Um diesen Paradigmenwechsel wirklich zu verinnerlichen, ist es entscheidend, sich klarzumachen, dass Sucht eine Krankheit und keine Charakterschwäche ist.

Der Weg aus der Alkoholabhängigkeit ist anspruchsvoll, aber er ist möglich. Der entscheidende erste Schritt ist, die Situation als das zu erkennen, was sie ist: ein medizinischer Zustand, der professionelle Hilfe erfordert. Wenn Sie oder jemand, der Ihnen nahesteht, betroffen sind, zögern Sie nicht. Informieren Sie sich über Beratungsstellen, Suchtambulanzen oder Kliniken in Ihrer Nähe und vereinbaren Sie ein erstes, unverbindliches Gespräch.

Geschrieben von Dr. Lena Richter, Dr. Lena Richter ist eine approbierte psychologische Psychotherapeutin mit 10 Jahren Erfahrung in der Behandlung von Suchterkrankungen und Angststörungen.