Veröffentlicht am März 15, 2024

Der Versuch, das Suchtverlangen (Craving) zu bekämpfen, ist oft zum Scheitern verurteilt. Der wahre Schlüssel zur Kontrolle liegt nicht im Widerstand, sondern darin, die Welle des Verlangens achtsam zu „surfen“.

  • Craving ist ein vorübergehendes neurobiologisches Signal, das im Gehirn entsteht, keine moralische Schwäche.
  • Achtsamkeitstechniken wie „Urge Surfing“ ermöglichen es, das intensive Gefühl zu beobachten, ohne darauf reagieren zu müssen, bis es von selbst abklingt.

Empfehlung: Beginnen Sie damit, Ihr Verlangen nicht als Feind, sondern als eine Welle zu betrachten. Das Beobachten dieser Welle, anstatt sich von ihr mitreißen zu lassen, ist die erste und wichtigste Fähigkeit auf dem Weg zur langfristigen Genesung.

Der Körper ist clean, doch der Kopf schreit nach mehr. Dieses Gefühl, ein intensives, fast unkontrollierbares Verlangen, ist für viele Menschen in der frühen Phase der Genesung eine der größten und beängstigendsten Hürden. Sie haben den physischen Entzug gemeistert, aber das psychische Verlangen, das sogenannte „Craving“, bleibt. Es überfällt einen wie eine plötzliche, gewaltige Welle und hinterlässt das Gefühl, machtlos zu sein und dem Drang für immer ausgeliefert zu bleiben. Die gängigen Ratschläge wie „lenken Sie sich ab“ oder „denken Sie an die negativen Folgen“ fühlen sich angesichts dieser inneren Wucht oft hohl und unzureichend an.

Doch was, wenn die grundlegende Herangehensweise falsch ist? Was, wenn es nicht darum geht, diese Welle mit aller Kraft zu bekämpfen, sondern zu lernen, auf ihr zu reiten? Dieser Artikel bricht mit der Vorstellung des Cravings als unbesiegbaren Feind. Stattdessen beleuchten wir es aus der Perspektive eines erfahrenen Surflehrers: mit Respekt vor der Kraft der Welle, aber mit dem unerschütterlichen Vertrauen, dass man die Fähigkeiten erlernen kann, um sie zu meistern. Wir werden die neurobiologischen Vorgänge im Gehirn entmystifizieren, die diesem Drang zugrunde liegen, und Ihnen zeigen, wie Sie vom passiven Opfer zum aktiven „Surfer“ Ihres Verlangens werden.

Um Ihnen eine klare Struktur für diesen Lernprozess zu geben, gliedert sich der Artikel in verschiedene Abschnitte. Wir beginnen mit dem Verständnis, warum das Verlangen auch nach der Entgiftung bestehen bleibt, tauchen dann in die Anatomie des Gehirns ein, um die Mechanismen dahinter zu verstehen, und stellen Ihnen schließlich konkrete, praxisnahe Techniken und Notfallpläne vor, um die Wellen des Cravings sicher zu reiten.

Körper clean, Kopf süchtig: Warum das Verlangen bleibt, auch wenn der Körper entgiftet ist

Der physische Entzug ist geschafft, die Substanz ist aus dem Körper verschwunden. Doch die eigentliche Herausforderung beginnt oft erst danach. Der Grund dafür liegt tief im Gehirn verankert. Langjähriger Substanzkonsum hat regelrechte neuronale Autobahnen geschaffen. Jeder Konsum hat diese Verbindungen verstärkt und dem Gehirn beigebracht: „Diese Substanz bedeutet Belohnung“. Auch wenn der Körper nun frei von der Substanz ist, existieren diese tief eingeprägten Bahnen weiterhin. Bestimmte Auslöser – ein Ort, ein Gefühl, eine Stresssituation – können den „Verkehr“ auf diesen alten Autobahnen sofort wieder aktivieren und das intensive Verlangen auslösen.

Dieses Phänomen wird als psychische Abhängigkeit bezeichnet. Es ist keine Frage der Willensschwäche, sondern ein erlernter, fast automatischer Prozess im Gehirn. Die gute Nachricht ist jedoch, dass das Gehirn lernfähig ist – ein Leben lang. So wie diese Autobahnen entstanden sind, können auch neue Wege gebaut und die alten, schädlichen umgeleitet werden. Es ist ein Training für das Gehirn, bei dem neue, gesunde Verhaltensweisen die alten Verknüpfungen langsam überschreiben. Studien deuten sogar darauf hin, dass bestimmte Substanzen wie Cannabidiol (CBD) diesen Prozess unterstützen können. So zeigt eine Untersuchung, dass CBD mit 800mg das Alkoholverlangen deutlich reduzieren kann im Vergleich zu einem Placebo.

Visualisierung von Nervenbahnen im Gehirn mit alternativen Routen, die neue Wege zeigen.

Wie dieses Bild visualisiert, geht es nicht darum, die alten Wege zu sprengen, sondern neue, attraktivere Routen zu schaffen. Jedes Mal, wenn Sie einem Craving nicht nachgeben und eine alternative Strategie anwenden, stärken Sie eine neue Verbindung. Mit der Zeit wird es für Ihr Gehirn immer natürlicher, diesen neuen, gesunden Weg zu wählen, während die alte Autobahn langsam zu einem verlassenen Feldweg wird. Der Schlüssel ist das Verständnis, dass der Kopf ein eigenes Trainingsprogramm benötigt, unabhängig vom Körper.

Die Anatomie des Cravings: Was im Belohnungszentrum des Gehirns passiert

Um das Verlangen zu verstehen, müssen wir eine Reise ins Zentrum unseres Gehirns unternehmen, genauer gesagt zum Nucleus accumbens. Diese kleine Region ist der Hauptakteur in unserem Belohnungssystem. Normalerweise wird sie bei lebenswichtigen Aktivitäten wie Essen oder sozialer Interaktion aktiv und schüttet den Botenstoff Dopamin aus, was uns ein Gefühl der Freude und Motivation verleiht. Suchtmittel kapern dieses System jedoch auf brutale Weise. Sie fluten den Nucleus accumbens mit einer unnatürlich hohen Menge an Dopamin und schaffen so eine extrem starke Verknüpfung zwischen der Substanz und einem Gefühl intensiver Belohnung.

Mit der Zeit passt sich das Gehirn an diese ständige Überflutung an. Es wird unempfindlicher gegenüber Dopamin, sodass normale Freuden des Lebens kaum noch eine Wirkung zeigen. Gleichzeitig wird das System hypersensibel für alles, was mit der Droge zu tun hat. Das ist der Kern des Cravings: Das Gehirn hat gelernt, dass nur die Substanz noch eine ausreichende „Belohnung“ liefern kann, und schreit förmlich danach, sobald es an sie erinnert wird. Dieser Mechanismus ist so fundamental, dass er die Grundlage für viele therapeutische Ansätze bildet.

Fallbeispiel: Die ICONIC-Studie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit

Eine Studie am ZI Mannheim lieferte faszinierende Einblicke in diesen Prozess. Bei Personen mit Alkoholsucht, die CBD erhielten, wurde der Nucleus accumbens bei der Präsentation von Alkoholreizen deutlich weniger aktiviert als in der Placebo-Gruppe. Die Forscher stellten fest, dass eine geringere Aktivität in diesem Belohnungszentrum direkt mit einem geringeren Alkoholverlangen und einer niedrigeren Rückfallwahrscheinlichkeit zusammenhängt. Dies zeigt, dass es möglich ist, die Reaktivität des Belohnungszentrums gezielt zu beeinflussen.

Das Wissen um diese Vorgänge ist unglaublich ermächtigend. Es beweist, dass Craving kein mysteriöses Monster ist, sondern ein konkreter, messbarer biologischer Prozess. Es ist die Reaktion eines Gehirns, das aus dem Gleichgewicht geraten ist. Das Ziel der Genesung ist es, diesem System zu helfen, seine natürliche Balance wiederzufinden, sodass die Freuden des Alltags wieder als belohnend empfunden werden können.

HALT! Bevor Sie zum Glas greifen: Wie Sie die wahren Auslöser Ihres Verlangens erkennen

Craving entsteht selten aus dem Nichts. Es ist meist eine Reaktion auf spezifische Auslöser – innere oder äußere Reize, die das Gehirn an die vermeintliche Belohnung durch die Substanz erinnern. Diese Trigger zu identifizieren, ist wie das Lesen einer Landkarte, die Ihnen die gefährlichen Gebiete zeigt. Man unterscheidet grob zwischen externen und internen Auslösern. Externe Auslöser sind greifbar: der Anblick einer Bierflasche, der Geruch von Rauch, der Kontakt mit alten Konsum-Bekanntschaften oder der Besuch eines Ortes, an dem Sie früher konsumiert haben.

Viel subtiler und oft schwieriger zu erkennen sind die internen Auslöser. Hier kommt das bekannte „HALT“-Akronym ins Spiel, das für Hungry (hungrig), Angry (wütend), Lonely (einsam) und Tired (müde) steht. Diese vier Zustände sind klassische Stressoren, die die Selbstkontrolle schwächen und das Gehirn anfällig für den „einfachen Ausweg“ des Konsums machen. Wenn Sie ein plötzliches, starkes Verlangen spüren, halten Sie inne und fragen Sie sich: Bin ich hungrig? Wütend? Einsam? Müde? Oft ist das Craving nur ein Symptom für ein anderes, unerfülltes Grundbedürfnis.

Die Wirkung von Suchtmitteln auf das Dopaminsystem spielt hier eine zentrale Rolle. Bei einer Suchterkrankung kann es zu einer Hyperaktivität in diesem System kommen, die durch Stress oder Trigger noch verstärkt wird. Moderne Forschungen untersuchen, wie bestimmte Stoffe hier regulierend eingreifen können, denn CBD moduliert die Dopaminrezeptor-Aktivität und kann die Hyperaktivität reduzieren, wie Studien zur CBD-Wirkung auf das Gehirn zeigen. Um diese Zusammenhänge bei sich selbst zu erkennen, ist ein strukturiertes Vorgehen unerlässlich.

Ihr Aktionsplan: Ein Craving-Tagebuch führen

  1. Das extrem starke Verlangen (Craving) dokumentieren: Notieren Sie präzise die Uhrzeit und den Ort, an dem das Verlangen auftritt.
  2. Körperliche Signale wahrnehmen: Beschreiben Sie genau, was Sie in Ihrem Körper spüren (z. B. Unruhe, Anspannung im Magen, trockener Mund).
  3. Gedanken protokollieren: Schreiben Sie die Gedanken auf, die ausschließlich darum kreisen, das Verlangen zu stillen (z. B. „Nur dieses eine Mal“, „Es würde mir jetzt so guttun“).
  4. Die ‚Geschichte‘ identifizieren: Welche Rechtfertigung oder Erzählung erfindet Ihr Kopf gerade, um dem Verlangen nachzugeben?
  5. Über akute Stresssituationen sprechen: Rufen Sie einen Freund an oder sprechen Sie mit einem Therapeuten, um Ängste zu lindern und die Macht des Cravings zu schmälern.

Dieses Protokoll ist mehr als nur eine Liste. Es ist Ihr persönliches Analyse-Werkzeug. Mit der Zeit werden Sie Muster erkennen und Ihre individuellen Hochrisikosituationen und -gefühle identifizieren. Dieses Bewusstsein ist der erste und wichtigste Schritt, um nicht mehr von der Welle überrascht, sondern auf sie vorbereitet zu sein.

Die Welle reiten, statt in ihr zu ertrinken: Die Technik des „Urge Surfing“

Stellen Sie sich vor, Sie stehen am Meer und eine große Welle rollt auf Sie zu. Ihr Instinkt wäre vielleicht, sich dagegen zu stemmen – ein Kampf, den Sie unweigerlich verlieren würden. Ein Surfer hingegen stemmt sich nicht gegen die Welle. Er akzeptiert ihre Kraft, positioniert sich und nutzt ihre Energie, um elegant über sie hinwegzugleiten. Genau dieses Prinzip liegt der Technik des „Urge Surfing“ (wörtlich: den Drang surfen) zugrunde, einer hochwirksamen Methode aus der Achtsamkeitspraxis und Verhaltenstherapie.

Der Kerngedanke ist revolutionär einfach: Ein Craving ist wie eine Welle. Es baut sich auf, erreicht einen Höhepunkt und ebbt dann ganz von allein wieder ab. Der Versuch, diese Welle zu unterdrücken oder zu bekämpfen, gibt ihr nur mehr Kraft und führt oft zum Gefühl des Ertrinkens. Urge Surfing lehrt Sie, stattdessen zum Beobachter zu werden. Sie nehmen das Verlangen wahr, spüren seine Intensität, beobachten die körperlichen Empfindungen und die Gedanken, die es auslöst – aber Sie handeln nicht danach. Sie lassen die Welle einfach durch sich hindurchrollen, in dem Wissen, dass sie vorübergehend ist.

Eine Person in meditativer Haltung, umgeben von abstrakten Wellenbewegungen, die das An- und Abschwellen von Gefühlen symbolisieren.

Diese Technik erfordert Übung, ist aber eine der mächtigsten Fähigkeiten in der Rückfallprävention. Hier ist eine schrittweise Anleitung, wie Sie Ihre erste Welle surfen können:

  1. Das Verlangen erkennen: Sobald der Drang aufkommt, sagen Sie sich innerlich: „Okay, eine Welle kommt.“ Nehmen Sie sie wertfrei wahr, ohne sich dafür zu verurteilen.
  2. Den Körper beobachten: Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die körperlichen Empfindungen. Wo spüren Sie den Drang? Im Bauch? In den Händen? Als Druck in der Brust? Beschreiben Sie die Empfindung für sich, als wären Sie ein Wissenschaftler.
  3. Die Welle visualisieren: Stellen Sie sich das Gefühl bildlich als eine Welle vor. Beobachten Sie, wie sie ansteigt, vielleicht kurz auf ihrem Höhepunkt verweilt und dann langsam wieder kleiner wird.
  4. Das Zeitfenster kennen: Machen Sie sich bewusst, dass eine solche Welle des Verlangens oft nicht länger als 20 bis 30 Minuten andauert. Es ist ein begrenztes, vorübergehendes Ereignis.
  5. Zurückkehren: Wenn die Welle abgeebbt ist, richten Sie Ihre Aufmerksamkeit wieder auf Ihre Umgebung. Atmen Sie tief durch und seien Sie stolz darauf, dass Sie die Welle geritten sind, anstatt von ihr fortgespült zu werden.

Mit jeder erfolgreich gerittenen Welle wächst Ihr Selbstvertrauen. Sie beweisen Ihrem Gehirn, dass das Verlangen nicht unbesiegbar ist und dass Sie die Kontrolle haben – nicht indem Sie kämpfen, sondern indem Sie achtsam und geschickt sind.

Mein persönlicher Notfallplan: Was tun, wenn das Verlangen unerträglich wird?

Manchmal fühlt sich die Welle des Cravings wie ein Tsunami an. Die Technik des Urge Surfing scheint unmöglich, und die Panik steigt. Für genau diese Momente benötigen Sie einen festen, vorher definierten Notfallplan. Ein solcher Plan ist wie ein Rettungsboot: Er muss stabil, leicht erreichbar und sofort einsetzbar sein. Das Ziel ist nicht, das Gefühl zu analysieren, sondern sofort ins Handeln zu kommen, um Distanz zwischen den Impuls und die Tat zu bringen.

Der wichtigste Grundsatz lautet: Verzögerung. Geben Sie dem Drang nicht sofort nach. Schließen Sie einen Pakt mit sich selbst, die Entscheidung um eine feste Zeitspanne, beispielsweise 30 Minuten, aufzuschieben. In diesen 30 Minuten ist Ihr einziges Ziel, die folgenden Notfallstrategien anzuwenden. Oftmals hat sich die Intensität des Cravings nach dieser Zeit bereits deutlich verringert. Ein solcher Plan sollte schriftlich festgehalten und an einem sichtbaren Ort platziert werden (z. B. am Kühlschrank oder als Notiz im Handy).

Ihr persönlicher Notfallplan könnte aus einer Kombination der folgenden Elemente bestehen, die Sie im Voraus für sich als hilfreich identifiziert haben:

  • Sofortiger Ortswechsel: Verlassen Sie die Situation umgehend. Wenn das Verlangen auf dem Sofa aufkommt, stehen Sie auf und gehen Sie in ein anderes Zimmer, auf den Balkon oder machen Sie einen kurzen Spaziergang um den Block. Physische Bewegung durchbricht mentale Schleifen.
  • Aktivierung der Sinne: Lenken Sie Ihre Wahrnehmung gezielt auf etwas Intensives. Beißen Sie in eine Chilischote oder eine Zitrone, halten Sie Ihre Hände unter eiskaltes Wasser oder riechen Sie an einem starken ätherischen Öl wie Pfefferminz. Starke sensorische Reize können den Fokus des Gehirns vom Craving weglenken.
  • Die „Notfall-Hotline“: Speichern Sie die Nummern von zwei bis drei Vertrauenspersonen (Freunde, Familie, Sponsor, Therapeut) unter „Notfall“ ab. Ein Anruf bei jemandem, der Ihr Vorhaben unterstützt und Sie daran erinnert, warum Sie diesen Weg gehen, kann die Welle brechen.
  • Laute Selbstgespräche: Es mag seltsam klingen, aber es wirkt. Sagen Sie laut und bestimmt zu sich selbst: „STOPP! Ich werde das jetzt nicht tun. Dieses Gefühl geht vorbei.“ Die auditive Komponente verstärkt die Entschlossenheit.
  • Alternative Aktivitäten: Legen Sie eine Liste mit 5-Minuten-Aktivitäten an, die Sie sofort starten können. Beispiele sind: Abwaschen, Liegestütze machen, ein lautes Lied hören und mitsingen, eine kurze Meditation per App starten.

Ein Notfallplan gibt Ihnen Sicherheit. Er ist der Beweis, dass Sie auch den stärksten Wellen nicht hilflos ausgeliefert sind. Sie haben Werkzeuge, Sie haben eine Strategie, und Sie haben die Macht, eine bewusste Entscheidung zu treffen, anstatt von einem alten Impuls gesteuert zu werden.

Die Anatomie des Verlangens: Was im Gehirn bei Sucht passiert

Während sich das Belohnungssystem auf das „Wollen“ konzentriert, erklärt ein anderer Aspekt der Gehirn-Anatomie, warum dieses Wollen so starr und unflexibel wird: die Neuroplastizität. Unser Gehirn ist von Natur aus formbar. Synapsen – die Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen – verändern sich ständig als Reaktion auf neue Erfahrungen. So lernen wir. Chronischer Drogenkonsum schädigt jedoch genau diese Flexibilität, insbesondere in Hirnregionen wie dem Nucleus accumbens.

Forscher haben herausgefunden, dass die Synapsen unter dem Einfluss von Drogen ihre Form verändern und „einfrieren“. Sie werden unflexibel und reagieren nicht mehr normal auf die feinen Signale von Botenstoffen wie Glutamat. Das Gehirn verliert die Fähigkeit, sein Verhalten anzupassen und auf neue Reize angemessen zu reagieren. Es steckt in einer Schleife fest, die immer wieder zum selben gelernten Verhalten führt: dem Konsum. Dieser Verlust der synaptischen Flexibilität ist ein biologisches Korrelat für den Kontrollverlust, den Betroffene erleben.

Forschung zur Neuroplastizität: Die Suche nach Flexibilität

Wissenschaftler wie Peter Kalivas von der Medical University of South Carolina erforschen genau diesen Mechanismus. Das Ziel ist es, Arzneistoffe zu finden, die gezielt in diese veränderten Hirnstrukturen eingreifen und den Synapsen ihre Flexibilität zurückgeben können. Die Forschung zeigt, dass regelmäßiger Drogenkonsum im Nucleus accumbens die Synapsen schädigt und sie unflexibel macht. Die Hoffnung ist, die „neuronale Maschinerie wieder in Gang zu setzen, die Süchtigen die Kontrolle über ihr Verhalten zurückgibt“, wie es Kalivas formuliert.

Diese Erkenntnis ist von zentraler Bedeutung. Sie zeigt, dass Sucht nicht einfach eine „schlechte Angewohnheit“ ist, sondern eine tiefgreifende, physische Veränderung der Gehirnstruktur. Die Genesung ist somit ein Prozess der „Re-Plastifizierung“ – ein aktives Umgestalten des Gehirns durch neue Verhaltensweisen, Therapie und potenziell auch medikamentöse Unterstützung. Jeder Tag in Abstinenz, jede Anwendung einer Bewältigungsstrategie ist ein kleiner Beitrag dazu, die festgefahrenen Synapsen wieder aufzulockern und dem Gehirn seine natürliche Anpassungsfähigkeit zurückzugeben.

Craving überwinden: Konkrete Strategien gegen das akute Verlangen

Neben dem achtsamen „Surfen“ der Welle gibt es eine Reihe von sehr konkreten, pragmatischen Strategien, die im akuten Moment des Cravings helfen können. Diese Taktiken zielen oft darauf ab, das Gehirn kurzfristig auszutricksen oder abzulenken, um das kritische Zeitfenster zu überbrücken, bis die Welle abebbt. Man kann sie als das „Paddeln“ betrachten, das einem hilft, sich für die Welle richtig zu positionieren. Sie ersetzen nicht das Urge Surfing, aber sie sind eine wertvolle Ergänzung im Werkzeugkasten.

Eine der effektivsten Methoden ist die Kombination aus Verzögern und Ablenken. Wenn der Drang kommt, sagen Sie sich nicht „Niemals!“, sondern „Nicht jetzt, vielleicht in 30 Minuten.“ Dieser kleine Aufschub nimmt dem inneren Konflikt die Schärfe. Nutzen Sie diese 30 Minuten dann gezielt für eine Aktivität, die Ihre volle Aufmerksamkeit erfordert und idealerweise nichts mit dem alten Konsumverhalten zu tun hat. Der Trick besteht darin, eine Aktivität zu wählen, die Sie sofort und ohne große Vorbereitung starten können.

Hier sind einige bewährte Taktiken, die Sie in Ihre persönliche Strategieliste aufnehmen können:

  • Die 5-Sinne-Übung: Halten Sie inne und benennen Sie bewusst fünf Dinge, die Sie sehen, vier Dinge, die Sie fühlen (z.B. die Kleidung auf der Haut), drei Dinge, die Sie hören, zwei Dinge, die Sie riechen, und eine Sache, die Sie schmecken. Diese Übung holt Sie aus dem Kopfkino zurück in die Gegenwart.
  • Konfrontation mit den eigenen Zielen: Lesen Sie eine Liste, auf der Sie vorher aufgeschrieben haben, was Sie durch die Abstinenz gewinnen wollen (bessere Gesundheit, klarere Gedanken, mehr Geld, stolze Familie). Vergegenwärtigen Sie sich den „Preis“ des Nachgebens und den „Gewinn“ des Standhaftbleibens.
  • Unterstützung anrufen: Ein kurzes Gespräch mit einem verständnisvollen Freund oder einer Freundin kann Wunder wirken. Oft reicht es schon, das Verlangen laut auszusprechen, um ihm einen Teil seiner Macht zu nehmen.
  • Produktive Ablenkung: Erledigen Sie eine kleine, aber sichtbare Aufgabe. Räumen Sie die Spülmaschine aus, putzen Sie das Bad, sortieren Sie eine Schublade. Der sichtbare Erfolg gibt ein kleines Gefühl der Selbstwirksamkeit, das dem Craving entgegenwirkt.

Diese Strategien bauen auf der Erkenntnis auf, dass das intensive Verlangen nur von kurzer Dauer ist. Es geht darum, geschickt durch diese kritische Phase zu navigieren. Wichtig ist auch das Vertrauen in die eigenen Werkzeuge. Wenn man zum Beispiel auf unterstützende Substanzen wie CBD zurückgreift, ist es beruhigend zu wissen, dass laut offizieller Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) CBD kein Missbrauchspotenzial aufweist. Dies stärkt das Vertrauen in den eigenen, selbstbestimmten Genesungsweg.

Das Wichtigste in Kürze

  • Craving ist ein erlernter, neurobiologischer Prozess, keine Charakterschwäche. Es ist die Reaktion eines Gehirns, das durch Suchtmittel aus dem Gleichgewicht gebracht wurde.
  • Die „Urge Surfing“-Technik lehrt, das Verlangen als eine vorübergehende Welle zu betrachten, die man achtsam beobachtet, anstatt gegen sie anzukämpfen.
  • Ein persönlicher Notfallplan mit konkreten Verzögerungs- und Ablenkungsstrategien ist entscheidend, um akute, überwältigende Craving-Episoden zu bewältigen.

Die Psyche im Griff der Sucht: Wie Abhängigkeit das Denken, Fühlen und die Persönlichkeit verändert

Die bisherigen Abschnitte haben sich stark auf die biologischen Mechanismen und praktischen Techniken konzentriert. Doch die vielleicht tiefgreifendste Veränderung findet auf der psychischen Ebene statt. Die Abhängigkeit formt nicht nur das Gehirn, sondern auch das Denken, Fühlen und die Selbstwahrnehmung. Oft entwickelt sich eine „Sucht-Persönlichkeit“, die von Rechtfertigungen, Verleugnung und einer ständigen Fokussierung auf die Substanz geprägt ist. Die Kontrolle über das eigene Leben scheint zu entgleiten, wie es auch Experten beschreiben.

Die psychische Abhängigkeit zeigt sich am Craving. Die Kontrolle über Zeitpunkt und Menge des Suchtmittel-Konsums entgleitet den Betroffenen. Dieser Zustand ist schwer zu durchbrechen, da sie sich ihr Verhalten erst wieder bewusst machen müssen.

– Mathias Luderer, Universitätsklinikum Frankfurt – Deutsche Gesellschaft für Suchtforschung

Der Weg aus der Sucht ist daher auch ein Weg der Persönlichkeitsentwicklung. Es geht darum, diese alten, destruktiven Denkmuster zu erkennen und durch neue, gesunde zu ersetzen. Dies ist ein Prozess, der oft therapeutische Begleitung erfordert, aber auch durch Selbstreflexion und den Austausch mit anderen Betroffenen enorm gefördert wird. Es ist die Transformation vom passiven Opfer der Umstände zum aktiven Gestalter des eigenen Lebens. Diese Veränderung der inneren Haltung ist der Motor, der die Anwendung all der gelernten Techniken erst nachhaltig macht. Eigene Erfahrungen, wie die Reduzierung von Heißhungerattacken während eines Entzugs, können diesen Wandel stark beflügeln.

Die Autorin ist seit über 30 Jahren Raucherin und hat mit dem Rauchen aufgehört. Nach der Einnahme von CBD Öl wurden Heißhungerattacken deutlich reduziert. Nach zwei Wochen ist kaum noch ein Verlangen nach Zigaretten da.

– Erfahrungsbericht, SWISS FX Magazin

Am Ende des Tages ist der Umgang mit Craving mehr als nur eine Technik. Es ist ein fundamentaler Wandel der Perspektive. Sie lernen, dass Gefühle und Gedanken kommen und gehen, ohne dass Sie ihnen folgen müssen. Sie lernen, dass Sie nicht Ihre Sucht sind, sondern ein Mensch, der gelernt hat, mit einem Symptom namens Craving umzugehen. Sie werden vom Getriebenen zum Surfer. Und jeder Tag, an dem Sie auf dem Brett stehen bleiben, egal wie klein die Welle war, ist ein Sieg und stärkt den Muskel der Selbstbestimmung für die Wellen, die noch kommen mögen.

Diese Veränderung der psychischen Grundhaltung ist der letzte und entscheidende Schritt, um die Sucht dauerhaft hinter sich zu lassen.

Beginnen Sie noch heute damit, diese Techniken in Ihren Alltag zu integrieren. Betrachten Sie das nächste aufkommende Verlangen nicht als Rückschlag, sondern als die perfekte Gelegenheit, Ihre erste Welle zu surfen und die Kontrolle über Ihr Leben zurückzugewinnen.

Häufige Fragen zum Thema Die Welle des Verlangens reiten: Wie man lernt, mit dem unwiderstehlichen Drang zum Konsum umzugehen

Was sind typische Auslöser für Craving?

Typische Auslöser sind oft Umgebungsreize, die mit dem früheren Konsum verknüpft sind, wie der Anblick einer Flasche Bier bei Alkoholabhängigen oder der Geruch von Marihuana bei Cannabisabhängigen. Ebenso können körperliche Entzugserscheinungen, Stress oder bestimmte emotionale Zustände wie Einsamkeit oder Wut als auslösende Reize wirken.

Wie entsteht das Verlangen neurobiologisch?

Neurobiologisch wird eine Abhängigkeit als ein stark erlerntes Verhalten verstanden. Durch wiederholten Konsum wird das Belohnungssystem im Gehirn so umprogrammiert, dass es extrem stark auf die Substanz und die damit verbundenen Reize reagiert. Das Craving ist dann eine erlernte, fast automatische Reaktion, die durch diese spezifischen Reize ausgelöst wird.

Was ist die Definition von Craving?

Craving ist ein Fachbegriff aus der Suchtforschung und beschreibt ein intensives, oft überwältigendes Verlangen oder eine unbezwingbare Begierde. Er wird verwendet, um den starken, subjektiv empfundenen Drang von Suchtkranken nach der spezifischen Wirkung einer psychoaktiven Substanz zu beschreiben.

Geschrieben von Dr. Lena Richter, Dr. Lena Richter ist eine approbierte psychologische Psychotherapeutin mit 10 Jahren Erfahrung in der Behandlung von Suchterkrankungen und Angststörungen.